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 Interview mit Dr. phil. Reto Volkart :
«Einzelhaft ist Folter»

 

Ein Delinquent wird für ein Paar Tage allein in eine Zelle gesteckt, damit er dort «zur Besinnung kommt». Wo liegt das Problem?

Einzelhaft bedeutet, rund um die Uhr in einem wenige Quadratmeter grossen Raum eingesperrt zu sein. Der oder die Gefangene nimmt also immer dieselben Reize wahr. Durch die Einschränkung der Bewegungsmöglichkeiten wird auch die körperliche Wahrnehmung reduziert.

Das trifft aber nur bei einer länger dauernden Einzelhaft zu.

Nein. Während die körperlichen Störungen vor allem nach längerer Einzelhaft auftreten, können psychische Symptome jederzeit einsetzen. Einige treten schon nach Stunden und Tagen schlagartig auf, andere entwickeln sich langsam und schleichend.

Welche Auswirkungen meinen Sie?

Zu den körperlichen Symptomen gehören  Schwindel, Schweissausbrüche, Schlaf- und Verdauungsstörungen, niedriger Blutdruck und erhöhte Pulsfrequenz. Die psychischen Auswirkungen reichen von Depression, Apathie, Ohnmacht, Angst, über unkontrollierbare emotionale Ausbrüche, Halluzinationen und Verfolgungswahn bis zur Sprachfindungs- und Ausdrucksstörungen. Auch ist die Selbstverstümmelungs- und Selbstmordrate in Einzelhaft erschreckend hoch.

Haben Sie konkrete Beispiele?

Ein Untersuchungshäftling, der nach langer Einzelhaft Selbstmord begangen hat, schilderte in seinem Abschiedsbrief, dass er keine zusammenhängenden Gespräche mehr führen könne. Er fürchte sich gar, auf Menschen zu treffen. Die Langzeitisolation habe ihn entsozialisiert. Er verwese bei lebendigem Leibe.

Ist denn die Einzelhaft in Untersuchungshaft besonders hart?

Nein. Ob die Einzelhaft als Untersuchungshaft oder im Strafvollzug vollzogen wird, hat keinen Einfluss auf die Stärke ihrer Effekte. Aber in der Untersuchungshaft schränken sie den Gefangenen in seinen Verteidigungsmöglichkeiten ein, und sie erzeugen einen massiven Geständnisdruck. So haben Gefangene in Einzelhaft verzerrte und falsche Informationen gegeben, sogar einen Mord gestanden, den sie nicht begangen haben. Nach der Menschenrechtskonvention gilt der Untersuchungsgefangene aber als unschuldig und darf in seinen bürgerlichen Rechten nur soweit eingeschränkt werden,  als dies für den Untersuchungszweck unbedingt notwendig ist.

Die in der Schweiz praktizierte Einzelhaft ist somit menschenrechtswidrig?

Die Schweiz ist das einzige Land in Westeuropa, wo Untersuchungshaft in der Regel als Einzelhaft vollzogen wird. Sie wirkt als Folter und erzeugt einen massiven Geständnisdruck.

Einzelhaft ist also Folter?

Es gibt angesichts der vorhandenen wissenschaftlichen Ergebnisse keinen Weg vorbei an der Feststellung, dass dieser Vorwurf berechtigt ist.

Aber wenn akute Fluchtgefahr besteht, ist Einzelhaft gerechtfertigt.
     
Fluchtgefahr kann auch mit anderen Massnahmen verhindert werden. Es gibt genügend Beispiele von Gefängnissen mit maximaler Sicherheit gegen aussen, die so gebaut und organisiert sind, dass im Innern mit relativ fortschrittlichen Strafvollzugskonzepten gearbeitet werden kann.
    
Immerhin diszipliniert Einzelhaft.

Der Einzelhaft als Disziplinarstrafe kommt keine erziehende oder resozialisierende Wirkung zu. Vielfach trifft sogar eher das Gegenteil zu, indem negative Haltungen und unerwünschtes Verhalten verfestigt werden.

Sie fordern die Abschaffung der Einzelhaft?

Ein Verzicht auf die Einzelhaft wäre ein Schritt in die Richtung einer menschenwürdigeren und gerechteren Justizpraxis. Dies wird aber nicht von Wissenschaft und Ethik bestimmt, sondern von der Politik. Wissenschaft kann die Auswirkungen nachweisen, Ethik und Moral können diese Befunde bewerten, Veränderungen jedoch müssen auf der politischen Ebene vorgenommen werden.
    

INTERVIEW VERA BUELLER

Dr. phil. Reto Volkart, 52, ist Fachpsychologe für Psychotherapie FSP, Leiter des ZEPT – Zentrum für Psychotherapie in Zürich – und Autor diverser Schriften und Studien über die Auswirkungen von Haftbedingungen.

Siehe auch: «Die Schattenseiten des Rechtsstaats»
und «Der Perspektiven beraubt» – ein Porträt

September 2006 top