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 Haftbedingungen:
Die Schattenseiten des Rechtsstaats

 

VON VERA BUELLER

«Es waren Tage der Verzweiflung», erinnert sich Marianne Stockinger, wie wenn es gestern gewesen wäre: Immer wieder habe sie von unterwegs versucht, ihren Sohn Peter zu erreichen, als sie am 8. Oktober 2003 in die Schweiz fuhr: «Wir hatten abgemacht, dass ich ihn an seinem Geburtstag besuche. Doch er meldete sich nicht; auch war er nicht zur Arbeit erschienen.» Das hatte es noch nie gegeben in den 24 Jahren, in denen er als Koch im «Mövenpick» in Chiasso arbeitete. Voller Sorge kehrte die Mutter zurück an ihren Wohnort Eibiswald in der Steiermark.

Erst Tage später erfuhr sie, was geschehen war: «In aller Herrgottsfrühe ist eine Horde Polizisten bei mir eingefallen, hat einen Computer gesucht und meine Wohnung total auseinander genommen», erzählt Peter. «Ich habe immer wieder betont, dass ich Koch bin, keinen Computer besitze und es sich um einen Irrtum handeln müsse.» Dennoch wurde er in eine Zelle des Polizeipostens von Mendrisio gesteckt. «In ein Loch ohne Fenster, ohne Radio, ohne Zeitung, ohne Uhr. Nachts hörte ich andere Gefangene schreien. Am Wochenende war ich dann völlig allein.» Man habe ihm gesagt, er müsse nur ein paar Tage «zum Überlegen» bleiben. Daraus wurden vier Monate Untersuchungshaft im Gefängnis «La Stampa» von Lugano. «Die Zelle dort war eine Kühltruhe. Als ich mal einen Liter Milch neben das geschlossene Fenster gestellt hatte, war sie anderntags gefroren.»

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Existenz zerstört

Für Maurizio Albisetti, den Vorsteher der Sektion Strafvollzug im Tessin, ist dies nicht der Normalfall im «La Stampa»: «Was die baulichen  Aspekten betrifft,  habe ich in diesem Sinne bis heute keine Reklamationen von Gefangenen erhalten.» Peter litt aber auch psychisch unter der Haft. Er sei sich wie Vieh vorgekommen: «Komm! Geh! Mach! Man ist nur noch ein A…» Als er schliesslich entlassen wurde, war seine Existenz zerstört: Arbeitsplatz verloren, Betreibungen für Tausende von Franken, Erspartes weg.

Während Peters Fall noch hängig ist, steht die Unschuld von Catherine Béguin und Christian Roduit bereits fest: Am 12. Januar wurde die Poststelle von Corcelles-Cormondrèche (NE) überfallen. Dabei nahmen die Täter den Posthalter und seine Freundin als Geiseln. Zwei Tage später sassen die beiden – für einen Monat – in Untersuchungshaft, weil sie der Komplizenschaft beschuldigt wurden. Ende Mai stellte der Staatsanwalt das Verfahren schliesslich ein.

Für Catherine Béguin ist der Vorfall ein Skandal: «Wir haben immer an den Rechtsstaat Schweiz geglaubt. Nie hätten wir gedacht, dass hier unbescholtene Bürger völlig unschuldig in Untersuchungshaft geraten können.» Ganz zu Schweigen von den Haftbedingungen. «Mein Freund sass täglich 23 von 24 Stunden isoliert in einer kleinen Zelle im Gefängnis Bois-Mermet bei Lausanne» (siehe auch Interview «Einzelhaft ist Folter»).

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Härter Bedingungen obwohl unschuldig

Unhaltbare Zustände in Untersuchungshaft sind in der Schweiz nichts Aussergewöhnliches, wie der Basler Strafrechtprofessor Peter Aebersold bestätigt: «Problematisch sind insbesondere die veralteten Regionalgefängnisse. Die Zellengrösse für eine menschengerechte Inhaftierung wird dort vielfach unterschritten. Das wird vom Bundesgericht  allerdings toleriert, wenn es genügend Gemeinschafts- und Arbeitsräume gibt. So dass sich der Gefangene quasi nur zum Schlafen in der Zelle aufhalten muss.» Wer jedoch in Untersuchungshaft sitzt, hat prinzipiell – um laufende Untersuchungen nicht zu gefährden – kaum Bewegungsfreiheit. Mit anderen Worten: Obwohl ein Untersuchungshäftling bis zum Beweis des Gegenteils als unschuldig gilt, sitzt er unter härteren Bedingungen ein als verurteilte Straftäter.

Dies trifft auch für die meisten Asylsuchenden in Ausschaffungshaft zu – sie haben ebenfalls kein Verbrechen begangen. In Sarnen sass ein solcher während dreier Monate in einer Zelle des Polizeigebäudes, bevor er sich Ende Januar erhängte. Diese Zelle verfügt über kein normales Fenster, nur über Klappluken, und ist gemäss kantonaler Verordnung für längere Aufenthalte nicht geeignet.

Es gab in der Folge eine Untersuchung über den Tod des jungen Mannes, «die aber nichts Aussergewöhnliches zutage führte», versichert Markus Marti, der Leiter des Amts für Arbeit. «Der Betroffene hat sich nie über die Haftbedingungen beklagt. Noch zwei Tage vor seinem Tod verneinte er gegenüber dem Haftrichter eine allfällige Verlegung in ein anderes Gefängnis.» Dennoch hält sich bei den Hilfsorganisationen hartnäckig das Gerücht, dass man den Mann mittels Entzug des Fernsehers und anderer Kontakte zur Aussenwelt unter Druck gesetzt habe, um seine Identität zu erfahren. Markus Marti dazu:  «Wir haben die Aufgabe, jeweils die Identität festzustellen. Dass dazu gewisse Methoden, wie Fernsehentzug, eingesetzt werden, stelle ich nicht in Abrede.» Für Peter Aebersold sind solche Praktiken unzulässig: «Sie dürfen höchstens als Disziplinarmassnahme eingesetzt werden, nicht aber um etwas zu erpressen.»

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Europarat-Menschenrechtskommissar kritisiert die Schweiz

Heftige Schelte für die Befragungsmethoden von Asylbewerbern gab es bereits letztes Jahr vom Menschenrechtskommissar des Europarats, Alvaro Gil-Robles. Er hatte zuhanden des Europarats einen umfassenden Bericht über die Einhaltung der Menschenrechte in der Schweiz verfasst. Darin kritisierte er auch die Haftbedingungen im überfüllten Genfer Gefängnis Champ-Dollon. Dort müssen sich zurzeit 458 Insassen  die für 270 Inhaftierte ausgelegten Räume teilen. «Das ist unerträglich. Für alle: die Anwälte, die Besucher, die Wärter, die Gefangenen. Es ist eine skandalöse Situation, die nun schon drei Jahre dauert», empört sich Doris Leuenberger, Vizepräsidentin der Schweizerischen Menschenrechts-Liga.

Überbelegungsprobleme gibt es in der ganzen Schweiz weil die durchschnittliche Haftdauer zugenommen hat; die Zellen bleiben deshalb länger besetzt. So finden die Behörden für verurteilte Straftäter oft keinen Platz mehr in einem Vollzugsgefängnis. «Wir müssen sie dann in einem Untersuchungsgefängnis unterbringen», bestätigt Martin Kraemer, Vorsteher des Amts für Freiheitsentzug des Kantons Bern. «Das bedeutet Einzelhaft, kein oder nur ein eingeschränktes Arbeitsangebot, auch keine Therapie. In den Regionalgefängnissen kommen oft bauliche Mängel hinzu. Das kann dort in Spitzenzeiten zu einem Notbettenregime führen, welches den minimalen Anforderungen der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze nicht mehr entspricht.»
Auch dies ist ein schon länger andauernder Zustand, wie eine 2004 veröffentlichte Doktorarbeit über Schweizer Gefängnisse belegt. Sein Verfasser, der Berner Jurist Christoph Fricker, hatte 22 Gefängnisse untersucht und «schwere Grundrechtsverletzungen» aufgedeckt: unzureichende Ausstattung, zu kleine Zellen, zu wenig Licht, Mangel an Frischluft oder Wärme. Sogar der Hofgang wurde nicht immer gewährt und im Luzerner Grosshof gab es Häftlinge, die in der Arrestzelle keine Matratze, kein Kopfkissen und keine Wolldecke erhalten hatten – was vom zuständigen Gefängnisdirektor freilich im Nachhinein bestritten wurde.

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Mäuse, Ratten, verlauste Kissen

Die Darstellung des Ex-Gefangenen Peter E. Schudel über die Haftbedingungen in der Vollzugsanstalt Urdorf (ZH) werden von den Behörden ebenfalls vehement in Abrede gestellt. «Ich traf Zustände an, die absolut desolat und der Schweiz unwürdig sind», sagt Peter Schudel. Hygiene sei einfach kein Thema. Die Zellen müssten von den Insassen gereinigt werden und seien, mangels Aufsicht, in dementsprechendem Zustand: «Die Matratzen und Decken sind mehr als schmuddelig. Das Kopfkissen musste ich gar festhalten, damit es nicht davon lief – so sehr hat es gelebt.» In der Küche habe es Fallen, in denen jede Woche drei bis vier Mäuse und Ratten gefangen würden. Ernst Egger, Leiter des Vollzugszentrums Urdorf, dazu: «Das trifft in keiner Art und Weise zu.» Es gebe auch regelmässig Kontrollen vom kantonalen Lebensmittelinspektor.

Peter Schudel galt eigentlich gar nicht als hafterstehungsfähig. Jedenfalls hatte seine Ärztin ein entsprechendes Zeugnis der Strafverfolgungsbehörde zugestellt. Er ignorierte deshalb das Aufgebot zum Haftantritt. Sein «Verbrechen»: Nicht bezahlte Parkbussen von insgesamt 6000 Franken. Als der Zürcher schliesslich verhaftet wurde, «musste ich mich nackt ausziehen und man hat mir in alle Löcher geschaut. Das muss man sich mal vorstellen: wegen Parkbussen!»

Als Schikane bezeichnet Schudel auch die Mahlzeiten: Er komme aus einer Arbeiterfamilie, sei also kein verwöhnter Essen, «aber was man in Urdorf vorgesetzt bekommt, ist absoluter Müll; gäderiges Fleisch wie Hundefutter und Suppe wie aus dem Sautrog». Keine Frage, Ernst Egger lässt auch dies nicht gelten. Vor allem aber verweist er auf die vom Kanton verfügten Sparmassnahmen. Pro Tag und Insasse stünden in Urdorf heute noch 16.60 Franken fürs Essen zur Verfügung – zum Vergleich: beim Militär sind es 8.50 Franken. Egger weiter: «Dass man eine Vollzugsanstalt nicht mit einem privat geführten Hotel vergleichen darf, ist sicherlich hinlänglich bekannt.»
«Nein, ein Hotel braucht es nicht zu sein», bestätigt der Strafrechtler Peter Aebersold, «aber der Freiheitsentzug ist per se mit Einschränkungen verbunden. Es ist nicht erlaubt,  ihn zusätzlich zu verschärfen.»  Allerdings bestehe die Gefahr, dass informelle Schikanen  eingesetzt würden: jemandem diskriminieren, nicht in Schutz nehmen, für bevorzugte Zellen nicht berücksichtigen, ihm einen schlechten Arbeitsplatz zuteilen.

Recht auf eine Stunde Hofgang wird nicht gewährt

Derartige Schikanen machen die Häftlinge der Strafanstalt Pöschwies auf der von ihnen eingerichteten unbewilligten Website www.non-grate.com öffentlich.  Unterstützt werden sie von ausserhalb durch die Selbsthilfegruppe «Reform 91», die für die Rechte Gefangener kämpft. Ihr Kopf ist Ex-Sträfling Peter Zimmermann, der noch Zeiten erlebt hat «als einem der Kopf rasiert und man mit einer Nummer angeredet wurde, man schweigend im Hof im Kreis gehen musste und statt eines WCs nur ein Kübel in der Zelle stand». Gewiss, es habe sich viel verbessert, aber es existierten heute noch grosse Unterschiede je nach Kanton und Vollzugsanstalt.

So müssen Inhaftierte des Gefängnisses Pöschwies pro Krankheitsfall für den Arztbesuch fünf Franken zahlen. Auch wird ihnen das vom Bundesgericht zugestandene Recht auf «täglich mindestens eine Stunde Bewegung oder geeignete Leibesübungen im Freien» nicht gewährt. Mit einer Petition an den Zürcher Regierungsrat wehrten sich die Gefangenen. Neu wird nun eine halbe Stunde Hofgang zugestanden. Ansonsten brachte die Petition keinen Erfolg.

Keine Chance hatte auch Peter Schudel, als er seine betagte Mutter an deren 90. Geburtstag im Pflegeheim besuchen wollte: «Ich wurde am 9. Dezember verhaftet und am 24. war der Geburtstag. Als ich den Freigang-Antrag gestellt hatte, hiess es, ein solcher müsse einen Monat vorher eingereicht werden. Auf meinen Einwand, dass meine Mutter vielleicht nicht mehr lange lebe, erhielt ich die Antwort: Selbst wenn sie akut im Sterben liegen würde, bekäme ich keinen Freigang.»

Siehe auch: Interview mit Dr. phil. Reto Volkart «Einzelhaft ist Folter»
und «Der Perspektiven beraubt» – ein Porträt

sowie untersuchungshaft

September 2006

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So viele Gefangene wie noch nie

In der Schweiz gibt es 7 geschlossene Anstalten, 22 halboffene, 4 Arbeitserziehungsanstalten, 5 Zentren für Zwangsmassnahmen sowie zahlreiche Regional- und Untersuchungs-Gefängnisse. Insgesamt stehen 6540 Plätze zu Verfügung.

Laut Bundesamt für Statistik überstieg die Gefangenen-Population in der Schweiz 2005 erstmals die Grenze von 6000 Inhaftierten. Das bedeutet einen Zuwachs von 23 Prozent in nur drei Jahren. Von den 6111 Insassen befinden sich rund 31 Prozent in Untersuchungshaft, 6 Prozent in Ausschaffungs- oder Auslieferungshaft. Der Anteil der Frauen ist mit etwas über 5 Prozent gering.

Der Ausländeranteil aller Insassen (inkl. U-Haft) beträgt 71 Prozent – ohne Ausschaffungshaft sind es noch 65 Prozent.

Quelle: Bundesamt für Statistik, Erhebung vom Stichtag 7.9.2005

Siehe auch www.justice-stat.admin.ch