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Kurt H. Illi Zahnarzt:
«Vom Zahnarztstuhl zum Polizeiverhör»

 

VON VERA BUELLER

Die 70jährige, kleingewachsene und etwas ängstliche Teresa Bernasconi* ist eine Betrügerin – behauptet die Tessiner Staatsanwaltschaft: Im vergangenen Frühling wurde sie von ihr als Beklagte zum Verhör aufs Polizeirevier vorgeladen. Die alte Dame war fassungslos. Und als ihr der verhörende Polizist den Grund für die Einvernahme nannte, brach für sie eine Welt zusammen.

Das Drama beginnt 2003 in der zahnmedizinischen Klinik der Universität Bern: Teresa Bernasconi, ehemalige Mitarbeiterin im Eidgenössischen Justizdepartement, möchte ihre bröckelnden Schneidezähne reparieren lassen. Man empfiehlt der gebürtigen Tessinerin wegen des zeitlichen Aufwandes die Behandlung in ihrem Wohn- und Heimatkanton vornehmen zu lassen; zum Beispiel bei Dr. Guglielmo Costa.*

Ihr Mund sei ein Disaster

Als Teresa Bernasconi die Praxis des empfohlenen Zahnarztes in Lugano betritt, ist sie davon überzeugt, gesunde Zähne zu haben – bis auf die beiden Schneidezähne eben. Doch Dr. Costa war anderer Meinung: Ihr Mund sei ein Desaster. Was dann folgt, ist eine Behandlungs-Odyssee, die Jahre dauert. Guglielmo Costa reist Zähne heraus, verankert Implantate, setzt Kronen, behandelt Wurzeln, ersetzt Füllungen. Auch die beiden Schneidezähne – der eigentliche Grund für den Besuch – versieht er mit Kronen. Doch diese fallen schon nach kurzer Zeit heraus. Nun sei nichts mehr zu machen, meint der Zahnarzt, es brauche zwei Implantate. Doch auch auf den Implantaten halten die Kronen nicht, und das immer wieder. Nach dem vierten Mal und Kosten von insgesamt 35'000 Franken ist Teresa Bernasconi psychisch wie physisch am Ende. Schaut sie in den Spiegel, sieht sie eine Frau, deren rötlich-blondes Haar deutlich ergraut und deren Mund ruiniert ist. «Nein, ein viertes Mal lasse mich nicht mehr von diesem Zahnarzt berühren», schwört sie und hält Ausschau nach einem neuen Dentisten.

Eine Bekannte empfiehlt 2008 Dr. Tommaso Buzzi*, der schon vielen Promis auf den Zahn gefühlt haben soll. Der Gang zum Zahnarzt werde bei ihm zum Verwöhn- und Lifestyleprogramm. Nach so viel Schmerz, den Teresa Bernasconi ertragen musste, tönt das verlockend. Dottor Buzzi repariert für 10'000 Franken die Schneidezähne und setzt zwei neue Kronen unten links. Doch – man ahnt es – auch diese Kronen halten nicht lange.

Ein merkwürdiger Dialog

Ein klassischer Garantiefall, denkt die Patientin. Doch der Verwöhn- und Lifestyle-Zahnarzt erkundigt sich nach ihrer Unfallversicherung. Und daraus entspinnt sich ein merkwürdiger Dialog.

Teresa Bernasconi: «Sie meinen, Ihre Versicherung übernimmt das?»
 Dottor Buzzi: «Nein, ich meine Ihre Versicherung. Wir lassen das aussehen wie einen Unfall. Das machen viele so.» Er zieht aus einer Schublade ein Dossier und wühlt darin: «Dieser hier hat einen Unfall in der Küche angegeben.»
Teresa Bernasconi schüttelt ungläubig den Kopf und bemerkt nach einer Weile «also, wenn schon, dann im Bad. Da rutscht man schon eher mal aus.»
Später wird sie erfahren, dass der Zahnarzt gegenüber den ermittelnden Behörden den Vorfall mit umgekehrten Rollen schildert: Die Patientin habe den Dentisten zum Betrug angestiftet.

Dabei erinnert sich Teresa Bernasconi nicht einmal mehr das Schadensformular der Krankenkasse KPT unterschrieben zu haben, schliesst das aber auch nicht aus. Sie ist zum damaligen Zeitpunkt überfordert mit allem, zu erschöpft, zu naiv und zu vertrauensselig.

65'000 Franken und kein Ende

Immerhin kommen ihr Zweifel, ob der neue Zahnarzt eine gute Wahl war. Sie wechselt erneut und weitere 10'000 Franken werden fällig. Damit sei aber noch nicht genug, meint der allerneueste Zahnarzt, es brauche noch einmal so viel, um die Schäden der Vorgänger zu reparieren. Das wären dann alles in allem 65'000 Franken.

Teresa Bernasconi stammt aus einfachen Verhältnissen. Die Eltern waren Landwirte und lebten vom Obst- und Blumenverkauf auf dem Markt von Lugano. Ihre Tochter sollte es einmal besser haben, und so förderte der Vater die kleine Teresa nach Kräften. Über die Literatur entdeckte sie die Welt, schloss die höhere Handelsschule ab und hat später als Staatsangestellte gut verdient. «Wenn ich heute einen tadellosen Mund hätte, würde ich dem Zahngeld nicht nachtrauen. Aber so, mit den Lücken im Mund, den unnatürlich wirkenden Kronen und dem ständig schmerzenden Zahnfleisch…»

Der neue Zahnarzt empfiehlt ihr, sich von der «Commissione arbitrale», der Schlichtungskommission der Tessiner Zahnarztgesellschaft SSO begutachten zu lassen. Teresa Bernasconi hört zum ersten Mal von dieser Möglichkeit und nimmt sie sogleich wahr. Im Herbst 2011 wird sie von drei Vertrauensärzten der Tessiner SSO-Sektion untersucht. Im Laufe der Begutachtung erzählt die Frühpensionierte den Examinatoren nebenbei, dass Tommaso Buzzi eine unter Garantie fallende Leistung als Unfall deklariert und ihrer Versicherung gemeldet habe.

Vom Medizinerlatein überfordert

Am 30. Januar 2012 erhält Teresa Bernasconi den Schlussbericht der Kommission. Sie ist eine gebildete Frau, spricht fliessend vier Sprachen, war für die Schweizer Botschaft in Deutschland tätig. Aber mit der Entzifferung des Medizinerlateins im Bericht ist sie schlicht überfordert. Nur das Fazit ist unmissverständlich: Beide Zahnärzte werden von der Kommission reingewaschen. Dottor Buzzi habe allerdings 2000 Franken zu viel verrechnet.
Und dann folgt gleich ein zweiter Hammer für die Zahnarztgeschädigte: «Die Kommission ist gezwungen, den Vorfall» – gemeint ist der Versicherungsbetrug – «den zuständigen Instanzen zu melden.»  Diese Vorgehensweise entspricht allerdings nicht dem Musterreglement der Schweizer Zahnärztegesellschaft SSO. Danach haben die von einer Sektion zugezogenen Fachexperten «absolute Unparteilichkeit und Schweigepflicht zu wahren». Auch Teresa Bernasconi hat mit der Verschwiegenheit der Kommission gerechnet.

Die mittlerweile 67jährige protestiert gegen den Vertrauensbruch der Kommission. Sie will wissen, an wen die Meldung geht und ist bitter enttäuscht; sie fühlt sich von der Kommission betrogen. «Ärzte decken sich immer gegenseitig und der Patient ist der dumme», denkt sie. Sie schreibt einen Brief an die Kommission: «Ich lasse mich nicht von Titeln und Finanzmächtigen beeindrucken. Mein Gewissen ist zu rein, als dass ich mich einschüchtern liesse.» 

Eine Antwort bekommt sie nicht. Auch sonst herrscht Ruhe vor dem Sturm. Was sie nämlich nicht weiss: Tommaso Buzzi ist ein äusserst unbeliebtes Mitglied der Tessiner SSO-Sektion. Er durchbricht Standesregeln, wirbt zu bunt und grell für seine Dienstleistungen, legt sich mit vielen an. Und so kommt ein Betrugsfall, in den er angeblich verwickelt sein soll, für einen Rausschmiss aus der Sektion wie gerufen. Zudem meldet die Kommission den Fall dem Kantonsarzt.  Das ist heikel. Denn von dieser Meldung ist auch die Patientin betroffen, und für sie würde eigentlich das Arztgeheimnis gelten. Es gibt zwar Fälle, in denen ein Arzt von der Schweigepflicht befreit ist. Betrug gehört aber nicht zu den gesetzlich definierten Ausnahmen.

Wer ist Opfer, wer Täter?

Anders sieht es beim Kantonsarzt aus. Als Amtsträger ist er verpflichtet, eine Straftat dem Staatsanwalt zu melden. Was er denn auch tut. Allerdings seien die Personalien von Teresa Bernasconi anonymisiert worden. Denn eigentlich sollte sich das Verfahren nicht gegen sie richten, nur gegen den Arzt. Sie sei ja das Opfer, ist auch der Kantonsarzt überzeugt.

Wieder ziehen Monate und Jahre ins Land. Plötzlich erhält Teresa Bernasconi ohne Begründung die Kündigung ihrer Zahnzusatzversicherung bei der KPT. Verdutzt fragt sie nach und bekommt zur Antwort, dass sie sich bei der Staatsanwaltschaft erkundigen solle.

Diese Kündigung ihrer Versicherung ist für die stolze Teresa Bernasconi eigentlich das Schlimmste, das ihr in der dieser ganzen Angelegenheit passiert ist: Nie hat sie sich etwas zu Schulden kommen lassen, hat immer ordentlich und rechtschaffen gelebt. «Und nun denken die von der Versicherung, ich sei eine Betrügerin!»

Anfang Mai 2015 kommt dann quasi als Krönung der langjährigen Passion die Vorladung der Kantonspolizei wegen eines Strafverfahrens gegen sie. Dort trifft sie auf einen äusserst verständnisvollen Polizisten, aber wie es weitergeht, ist unklar. Teresa Bernasconi fühlt sich in einer kafkaesken Situation: «Ich habe ein Vermögen ausgegeben, muss noch mehrere Tausend Franken investieren und was bleibt? Ein ruinierter, schmerzender Mund. Zudem stehe ich als Betrügerin da und der Zahnarzt wird von seinem Anwalt gewiss weissgewaschen.»

Im Sommer 2015 rafft sich Teresa Bernasconi nochmals auf und lässt ihre Zähne ein weiteres Mal begutachten, diesmal im Zentrum für Zahnmedizin der Universität Zürich. «Ja, für das viele Geld, müsste das Resultat ein anderes sein», bekommt sie dort zu hören – nebst der Diagnose einer fortgeschrittenen Parodontose. «Was geschehen ist, ist geschehen. Ihnen bleibt höchstens noch der juristische Weg», sagt man ihr in Zürich. Doch dafür ist es längst zu spät. Teresa Bernasconi hat resigniert: «Ich mag einfach nicht mehr neue Gutachten einholen, Anwälte aktivieren und die in meinem Alter knapp bemessene Zeit sowie eine Menge Geld verlieren. Denn was kommt heraus?»

*Alle Namen von der Redaktion geändert
P.S.: Die Frau wurde inzwischen wegen Betrugs zu einer bedingen Geldbusse verurteilt. Sie hat das Verfahren nicht an die nächste Instanz weiter gezogen.

Oktober 2015
Der Artikel ist auch erschienen im www.beobachter.ch

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