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VON WINA BILLERS

Eigentlich sollten die Pferde auf der «Alpe grande» sein. Der Bauer des kleinen Gehöfts «Bolla Leoni» steht inmitten frei herumlaufender Enten, Hühner, Küken, Katzen und Hunde. Konsterniert stellt er fest: «Gestern waren sie noch hier.» Einige Telefonmastmonteure wollen die Rösser früh am Morgen gesehen haben, aber viel weiter oben bei der «Baita di Orimento».  Der Weg schlängelt sich den Monte Generoso hinauf, umwickelt einen Hügel nach dem anderen – und dann plötzlich stehen sie da: 20 stämmige Pferde ohne Zaumzeug und unbeschlagen; ihr fuchsfarbenes Fell, die wild blonden Mähnen und Schweife glänzen in der Herbstsonne. Es sind stattliche Tiere, wohlgenährt und gesund.
Mariachiara Lietti fällt fast hörbar ein Stein vom Herzen. Die 32-jährige Tierärztin aus Como (I) hatte schon befürchtet, die Wildpferde den ganzen Tag über suchen zu müssen. Sie ist die Präsidentin der «Associazione Cavalli del Bisbino ONLUS», der es zu verdanken ist, dass man die Pferde nicht abgeschlachtet hat – damals im Januar 2009…

Den Friedhof leer gefressen

Der Winter hatte Europa seit Wochen fest im Griff – geschlossene Schneedecke und Dauerfrost. Auch in Sagno, einem 310-Seelendorf im Muggiotal (TI), mochte bei dieser Kälte niemand ins Freie gehen. Entsprechend still und leer war es in den Gassen. Doch plötzlich ein gewaltiges Gepolter, das die Bevölkerung aus dem Winterschlaf schreckte. Die Sagnognesi trauten ihren Augen nicht: Eine Horde wilder Pferde trampelte durchs Dorf und auf den Friedhof. Ganze Kranzgebinde, Hecken und Sträucher verschwanden in den Mäulern der hungrigen Tiere. Zurück blieben Haufen von Pferdeäpfeln. Woher kamen die Rösser? Wem gehörten sie? Was tun?

Während einige Bewohner in ihrer Kirche den Erzengel Michael um Hilfe anriefen, hatten andere Handfesteres im Sinn: die Haflinger-Pferde einfangen, verkaufen oder in Bellinzona dem Abdecker zuführen. Entsprechende Äusserungen des Tessiner Kantonstierarztes und des Gemeindepräsidenten von Sagno gegenüber den Medien lösten damals eine Welle der Empörung und der Sympathie für die wilden Tiere aus: Sie wurden zum Symbol für Freiheit und Ungezähmtheit, für den Widerstand gegen zu viel Zucht und Ordnung in unserer Gesellschaft – und zu einem Politikum zwischen der Schweiz und Italien. Denn bald war klar, dass die Pferde aus Italien stammten. Ähnliches hatte sich nämlich in Rovenna (I), einem kleinen Dorf oberhalb von Cernobbio am Comersee abgespielt, wohin eine zweite Gruppe der Wildpferde galoppiert war. Diese wurde von einer grossen Maultierstute angeführt.

Grenzgänger aus Italien

Deren Herkunft war schnell geklärt: Das Maultier (La Mula) namens «Gemma» und ihre Herde stammten von der «Alpe Böcc» am Monte Bisbino, vom Hof des 2003 verstorbenen italienischen Bergbauern Roberto Della Torre. Und auch die Pferde von Sagno kamen von dort. Della Torre hatte seine Rösser schon immer frei in der bergigen Wildnis grasen lassen, und als er sich mit fortschreitender Krankheit im Alter nicht mehr richtig um seine Tiere kümmern konnte, weiteten diese ihr Territorium Weide um Weide aus.

Haflinger sind Gebirgspferde, die ursprünglich aus dem Südtirol stammen und speziell für die Alpen gezüchtet wurden. Sie gelten als intelligent, vielseitig einsetzbar, trittsicher, gutmütig und ausgesprochen genügsam. Deshalb wären die ausgewilderten Pferde vom Monte Bisbino auch nicht gross aufgefallen, wenn da nicht der harte Winter 2009 gewesen wäre, der die Tiere auf der Suche nach Nahrung hinunter in die Dörfer trieb.top

Ungeklärte Besitzverhältnisse

Dort wusste man nun zwar, woher die Pferde stammten, aber wem sie nach dem Tod Della Torres gehörten, blieb unklar. Die Erben des wohlhabenden Bergbauern stritten nämlich seit Jahren wegen des Nachlasses vor Gericht. Dabei standen freilich nicht die Pferde im Zentrum des Interesses, sondern die vielen Liegenschaften und Häuser, die Della Torre besessen hatte. Ergo fühlte sich niemand für die Gäule zuständig.

Der Präfekt von Como verfügte schliesslich deren Freiheit, bis das Erbe geklärt sei. Von dem weisen Richterspruch konnten jedoch nur die Pferde auf italienischem Boden profitieren und nicht jene, die halb verhungert durch Tessiner Dörfer trabten. Ihnen drohte nach wie vor die Schlachtbank.  Doch Pferdefreunde, Tierschutzorganisationen und die Medien mobilisierten zur Rettung auch der immigrierten Haflinger. Es war, als wäre die eigene Freiheit in Gefahr. «Ja, es ging und geht noch immer um mehr, auch um die grundsätzliche Frage, wie viel Platz auf dem engen Planeten für Natur, Wildheit und Originalität noch bleibt», philosophiert Mariachiara Lietti. Ausserdem faszinierte das Ungezähmte.
Ein Hauch von Wildwest-Romantik liegt auch jetzt in der Gebirgsluft – beim Anblick der frei auf der Weide galoppierenden Haflinger. Derweil erzählt Mariachiara Lietti vom echten Wildpferd, das in der Schweiz vor mehreren Jahrtausenden gelebt haben soll, wie Knochenfunde aus der Jungsteinzeit vermuten lassen. «Ausgewilderte Hauspferde wie der Mustang in Nordamerika oder die Camargue-Pferde in Frankreich hat es in dieser Gegend jedoch nie gegeben.»
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Freiheit unter Aufsicht

Als es im März 2009 zur Aussprache zwischen dem Gemeinderat von Sagno und sieben Tierschutzorganisationen kam, zeigten sich die Behördenvertreter – unter dem Druck der Öffentlichkeit – betont tierfreundlich. Man gestand den Pferden ihre Freiheit zu. Allerdings war sie an Bedingungen geknüpft: Die Rösser müssten tierärztlich betreut, künftig im  Winter eingefangen und mit Futter versorgt werden.

Allein die Landwirte, beidseits der Landesgrenze, liessen sich vom Freiheitsfieber nicht anstecken. «Jedenfalls nicht alle», präzisiert die Tierärztin Lietti, während sie einer Stute liebevoll über die Stirn fährt. Mit Mistgabeln und Schaufeln bewaffnet hätten einige den Wildpferden nachgestellt. Bis heute besteht der Verdacht, dass Jäger oder Bauern einen der Leithengste gezielt auf einen Felsvorsprung und in die Tiefe, in den Tod getrieben haben. «Wir haben seine Überreste nach wochenlanger Suche in einer Schlucht gefunden. Die Umstände waren dubios…»top

1600 Kilo Gras täglich

Dennoch gibt sich Mariachiara heute versöhnlich: Es sei für einen Landwirt nicht leicht, die fremden Pferde zu akzeptieren. Ein Haflinger fresse pro Stunde bis zu fünf Kilo Gras – und das rund 16 Stunden täglich. «Bei guten Bedingungen frisst eine Herde von 20 Rössern also bis zu 1600 Kilo Gras, an einem einzigen Tag.» Was Wunder, hält sich die Begeisterung eines Bergbauern in Grenzen, wenn plötzlich eine Horde wilder Pferde über seine Weiden und die Wintervorräte herfällt.

Es ist ein herrlich klarer sonniger Herbsttag. Mariachiara Liettis Blick streift über die Weiden. Das Gras sei zu trocken, bemerkt sie sorgenvoll, «es hat in diesem Sommer zu wenig geregnet». Die Situation mit den Landwirten habe sich jedoch entspannt, seit sich auch die Behörden für die Wildpferde einsetzten und alles einen mehr oder weniger offiziellen Charakter bekommen habe.

Selbst die Besitzverhältnisse konnten geklärt werden: Die Schwägerin Della Torres und deren Tochter wurden vom Comer Gericht als Erben bestimmt und damit zu den Eigentümern der Pferde. Das führte zunächst allerdings zu einer bedrohlichen Situation: Die neuen Besitzer liessen einen jungen Hengst einfangen und übergaben ihn einer Reitschule.  Die Empörung der Tierschützer in der Schweiz und in Italien war gross: Die wilden Pferde ihrer Welt entreissen und einkerkern? Die Presse schlug Alarm. «Schliesslich haben die neuen Eigentümer eingesehen, dass das nicht geht und uns die Pferde bedingungslos überlassen», erzählt Mariachiara. Mit uns meint sie die im Frühling 2009 gegründete italienisch-schweizerische «Associazione Cavalli del Bisbino ONLUS». Den Schweizer Part hat in der Organisation die Tessiner  Architektin Luigia Carloni als Vizepräsidentin übernommen. top

Auf Spenden abgewiesen

Zahlreiche andere Schweizer Pferdefreunde schlossen sich der Vereinigung an und sammelten Geld. Sogar die Gemeinde Breggia, zu der Sagno heute gehört, sowie Mendrisio, Melano und die Monte Generoso-Bergbahn unterstützen die Vereinigung mittlerweile finanziell – wenn auch nur mit symbolischen Beiträgen. «Aber das ist extrem wichtig, denn ohne öffentliche Wahrnehmung versiegen auch die privaten Spenden. Das würde das Ende der Wildpferde bedeuten», betont Luigia Carloni auf Anfrage. Etwa 9000 Franken koste nämlich die Betreuung und ärztliche Versorgung der derzeit 23 registrierten Pferde pro Jahr. Damit die Herde nicht weiter wächst, wurden die Hengste kastriert – «was freilich nicht ausschliesst, dass die eine oder andere Stute mit einem domestizierten Pferd auf einer freien Weide fremdgeht…», lacht Mariachiara Lietti und schaut sich um, zur Leitstute «La Bionda» – dem auffälligsten, blondesten Exemplar dieser Gruppe.   

Auch das Winter-Problem konnte vorerst gelöst werden: Die italienische Gemeinde Lanzo d’Intelvi hat eine grosse Koppel zur Verfügung gestellt, wohin die Wildpferde im Spätherbst in einer aufwändigen, so genannten «Transumanza» getrieben werden. Und im Frühling geht es zurück in die Freiheit auf die Weiden des Monte Generoso. Die letzte «Transumanza» von der Winterweide zur Alp Squadrina-Persciò wird allen Beteiligten in lebendiger Erinnerung bleiben: Etwa hundert Freiwillige sowie Reiter der berittenen italienischen Naturschutzorganisation «Giacche Verdi» (grüne Jacken) kreisten die Herde ein und trieben sie voran. Auch Polizeibeamte von Como und der Zivilschutz von Ronago (I) standen im Einsatz. «Es hatte teils noch Schnee und wir mussten in dem weitläufigen Gebiet etwa 30 Kilometer zurücklegen, über Berge und Täler. Und natürlich ist immer mal wieder ein Pferd ausgebüchst, das wir dann suchen und einfangen mussten. Das war hart», erinnert sich Mariachiara. Mit dabei war auch eine Stute, die eben erst unter schwierigen Umständen ein Fohlen zur Welt gebracht hatte.top

Trügerischer Frieden?

Heute leben die Wildpferde vom Frühling bis zum Spätherbst in zwei Gruppen dies- und jenseits der Landesgrenze in den Bergen. Fast scheint es, als wäre ein friedliches Leben in Freiheit garantiert. Doch Mitte September das Drama: Eine Stute und das Fohlen «la Luna» (der Mond) sind verschwunden. Ausgerechnet «la Luna»! Eine Schulklasse aus Breggia hatte unlängst die Herde auf dem Monte Generoso besucht und «la Luna» sofort ins Herz geschlossen. Die Kinder adoptierten das Fohlen und klaubten ihr Taschengeld als Spende für dessen Unterhalt zusammen. Nun ist es weg. Gestohlen?

«La Luna» war in einer kleinen Gruppe, angeführt vom Maultier «Gemma» in Richtung Monte Bisbino unterwegs. Die 17jährige Stute fand man kurze Zeit später tot auf einer Weide mit einem Grasbüschel im Maul. Nein, eine Fremdeinwirkung konnte diesmal nicht festgestellt werden. Sie starb wohl an einem Herzinfarkt. «Es scheint, dass Gemma zurück zu ihrer Geburtsstätte zur Alpe Böcc wollte um dort zu sterben», tröstet sich Mariachiara Lietti, und fügt hinzu, dass man in der Wildnis halt nie wisse, was genau passiere. «So ist das eben, wenn man den Tieren die Freiheit lässt.» top

Freiheit stösst an Grenzen

Eine Freiheit, die im kleinräumigen, von der Zivilisation bestimmten Gebiet Norditaliens und der Schweiz schnell an Grenzen stösst: «Neulich sind die Pferde auf der Bergstrasse, also auf einem Naturweg gelaufen und die italienischen Forstaufsichtsbehörde hat uns gedroht, dass wir im Wiederholungsfall eine Busse von 100 Euro pro Tier zahlen müssen.» Doch wie könne man einem Wildpferd beibringen, dass es sich nur auf Weiden oder im Wald aufhalten dürfe?

Zumal einige Touristen auf den Wanderwegen oder beim Picknicken inmitten der eindrücklichen Gebirgslandschaft die Haflinger mit altem Brot, Rüben oder gar Zucker anlockten. Prompt kommt ein junger Hengst angelaufen, schnuppert an den Jackentaschen der Reporterin. Dann galoppiert er den Hang hinunter, wälzt sich auf dem Rücken, springt wieder zurück zur Herde. Ein angenehm kühles Lüftchen kommt auf. Die Pferde heben ihre Köpfe, stellen die Ohren nach vorn, blähen ihre Nüstern – und stieben davon. So plötzlich sie da waren, so plötzlich sind sie wieder verschwunden.

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Internet:
Associazione cavalli del Bisbino ONLUS www.cavallidelbisbino.ch  
(mit Link zum Facebook)
info@cavallidelbisbino.ch
(Mails sind auch auf Deutsch möglich)

Spenden:
Postcheckkonto  65-262456-4
oder Raiffeisen-Bank Mendrisio
IBAN: CH76 8034 0000 0506 2558 1

.November 2011

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