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Der sterbende Napoleon Museo Vela:
Das Pantheon der Italiener liegt im Tessin

 

VON VERA BUELLER

 Quizfrage. Wo befindet sich das zweitgrösste eidgenössische Museum nach dem Landesmuseum? In Bern, Basel, Genf oder Luzern? Falsch. Man findet es im 1400 Seelen Dorf Ligornetto im südlichsten Zipfel des Tessins: das Museo Vela. Noch nie davon gehört? Das Museum ist tatsächlich in der Deutschschweiz weitgehend unbekannt Das liegt zum einen daran, dass es in den letzten Jahren wegen umfassender Renovationsarbeiten geschlossen war. Zum andern hat der Künstler, dem das Museum gewidmet ist, nördlich der Alpen schon zu Lebzeiten kaum Anerkennung gefunden.

Der Bildhauer Vincenzo Vela war aber eine schillernde Persönlichkeit und gehörte sowohl zu den erfolgreichsten, wie auch zu den bedeutendsten Bildhauern des 19. Jahrhunderts. Geboren wurde er als Sohn eines Kleinbauern 1820 in Ligornetto, das in der breiten Talsohle des Mendrisiotto liegt.
Die Menschen hier wissen nicht so recht, wohin sie gehören: zur Schweiz oder zu Italien? Auch Vincenzo Vela war gleichermassen schweizerischer wie italienischer Patriot. Als überzeugter Republikaner meldete er sich freiwillig bei General Henri Dufour für den Sonderbundkrieg und eilte 1848 den Italienern zu Hilfe, um sie in ihrem Unabhängigkeitskampf gegen die österreichische Fremdherrschaft zu unterstützen. Die Legende will wissen, Vela selbst habe die Trikolore auf die Spitze des Mailänder Doms gesetzt.

1852 flüchtete er aus dem österreichischen Mailand nach dem freien und liberalen Turin. Die Stadt war im 19. Jahrhundert durch die ehrgeizigen Pläne des Königshauses Sardinien zum politischen Zentrum, zum Keim der italienischen Hoffnungen auf Einigung geworden. Vela kam wie gerufen. Sein sozialer Verismus, der gleichermassen von einem künstlerisch wie politisch revolutionären Bewusstsein getragen war, galt hier als Neuheit. Im Verlauf der nächsten 14 Jahre konnte er von Turin aus, wo er gleichzeitig drei Ateliers betrieb und als Professor lehrte, den sogenannten "Verismo" unumstritten und schulbildend verbreiten und die Kunst ganz Italiens nachhaltig prägen.

Er schuf teils überlebensgrosse Statuen von Freiheitskämpfern und Patrioten wie Giuseppe Garibaldi oder Camillo Cavour, von Königen, Philosophen und Theologen. In Italien und auch in Frankreich schmücken Denkmäler Velas noch heute manch einen Platz, Strassen, Plätze, sogar die erste Lokomotive der Eisenbahn Menaggio-Porlezza wurden nach ihm benannt.

Nicht so in der deutschen Schweiz, wo der Mut zum Monumentalen schon damals fehlte. Sein Vorschlag für eine Helvetia vor dem Bundeshaus wurde abgewiesen und auch seine jahrelangen Bemühungen für die Bildung einer eidgenössischen Kunstschule fanden kein Echo.

Mit 47 Jahren gab der ruhmbedeckte Tessiner Bildhauer die Leitung der königlichen Kunstakademie in Turin ab und kehrte nach Ligornetto zurück. Dort hatte er sich oberhalb des Dorfes einen imposanten Palazzo - gleichzeitig Wohnhaus, Atelier und Ausstellungsraum - bauen lassen. Als 1868 alle Modelle herbeigeschafft waren, öffnete Vela die Tore seines Hauses für die Allgemeinheit. Die Tageszeitung "Gazzetta Ticinese" lobte ihn dafür als "den ungeheuren Künstler, den Gott der Bildhauerei".

Das Publikum bestand keineswegs nur aus Kunstfreunden. Vor allem pilgerten Bürger des erst 1871 offiziell geeinten Italien herbei, in Ligornetto nämlich stand ihr Nationaldenkmal, der Ruhmestempel des "Risorgimento". Als kleines Gegenstück zur deutschen Walhalla bei Regensburg barg es Persönlichkeiten aus allen Generationen der italienischen Geschichte, angefangen mit Dante und Giotto bis hin zu den Helden der jüngsten Vergangenheit, allen voran Cavour und König Vittorio Emanuele II.

Aber nicht nur die Prominenz des 19. Jahrhunderts war Gegenstand von Velas Schaffen. In vielen seinen Werken kommt ein starkes soziales Engagement zum Ausdruck - für die damalige Zeit etwas völlig Neues. Herausragendes Beispiel dafür ist sein Relief "Opfer der Arbeit", das er zu Ehren der vielen namenlosen, an der Baustelle des Gotthard-Eisenbahntunnels verunglückten "Märtyrer der Arbeit" schuf - aus Eigeninitiative, ohne Auftraggeber und notabene ohne Bezahlung. Das Relief zeigt Mineure, die ihren toten Kollegen auf der Bahre aus dem Stollen wegschaffen - es steht heute beim Bahnhof von Airolo.

Vela mischte sich auch in die Politik ein, sass für die Linken im Tessiner Grossen Rat, wurde aber 1881 unter dem erstarkten Einfluss der Konservativen nicht wiedergewählt - man zog ihm einen Schneider aus Ligornetto vor. Damals wurde ihm, dem Ketzer gegen die Kirche, nachgesagt, er habe den Pfarrer von Ligornetto erschlagen. 1890 nahm er samt Karabiner an der Revolution in Lugano teil - die rote Feder im Hut. Er sei vor allem - "noch bevor ich Künstler bin" - Staatsbürger, begründete er sein Engagement. So war er auch Gründungsmitglied der lokalen Sozialversicherungsgesellschaft der Arbeiter und schuf in seinem Heimatdorf den ersten Kindergarten.

Vela starb 1891. Testamentarisch vermachte er sein Haus in Ligornetto der Eidgenossenschaft, die das Gebäude zu einem Museum umgestaltete. Der Kunsttempel ist heute eine der wenigen noch erhaltenen Wohn- und Arbeitsstätten von Künstlern des 19. Jahrhunderts. Mit dem kürzlich abgeschlossenen Umbau wurde Stararchitekt Mario Botta beauftragt. Einige seiner Eingriffe sind allerdings fragwürdig: der Wohncharakter des Hauses ist fast vollständig auf der Strecke geblieben. Und warum, um Himmels Willen, hat Botta
den Steinboden im Parterre durch Holz ersetzt? Manchmal wäre etwas weniger eben doch mehr.

Juni 2001

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März - Mai / marzo - maggio 10 -17
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Visite guidate per gruppi su prenotazione (min. 8 max 20 persone per gruppo)
(I) CHF 150.--, (F/D/E) CHF 180.--