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Privatisierung:
Das Geschäft mit dem Sozialen
VON VERA BUELLER
Franz-Josef
Egger hat alles durchgemacht. Er war Abteilungsleiter, wurde als Fusionsopfer
arbeitslos, galt als überqualifiziert und deshalb schwer vermittelbar,
versuchte sich als Selbständiger, scheiterte, verfiel dem Alkohol und
wurde obdachlos. Nun, als Sozialfall, ist er ein gefragter Mann: Therapeuten,
Heimleiter und Stellenvermittler reissen sich um ihn. Für die privaten
Sozialunternehmer hat Egger nämlich einen hohen Stellenwert. Sie erhalten
pro «Kunde» staatliche Subventionen oder aber Gelder aus den Sozialversicherungsfonds
– und der Hilfsbedürftige ist so selbst als Ausgesteuerter noch Renditeobjekt
auf dem kapitalistischen Markt.
Das ist neu. Denn der Staat delegiert
seine sozialen Aufgaben zunehmend an private Anbieter, die sich auf dem freien
Markt konkurrieren. Wie wenn es um die Verbrennung von Kehrichtabfällen
ginge, lagern die Behörden ihre Altersheime, Familienbetreuung und andere
Beratungsstellen aus. Theoretisch liesse sich das gesamte Sozialwesen privatisieren.
Das wäre immerhin ein jährliches Auftragsvolumen von rund 7 Milliarden
Franken (vgl. Kasten). Soviel geben Bund, Kantone und Gemeinden heute für
die soziale Wohlfahrt pro Jahr aus – ohne Renten und Arbeitslosentaggelder.
Hinzu kommen Aufwendungen, die von den Krankenversicherungen finanziert werden.
Und das gesamte Asylwesen. Das Bundesamt für Flüchtlinge (BFF) vergibt
dafür bereits 8,2 Millionen Franken an Dritte. Angesichts eines BFF-Budgets
von über 1 Milliarde liegt da aber noch viel mehr drin.
Spezialaufträge in Millionenhöhe
Verwunderlich ist es also nicht, dass
immer mehr Sozialunternehmer auf den Markt drängen. So bedroht bereits
die «Organisation für Regie- und Spezialaufträge» (ORS) sicher geglaubte
Besitzstände der Caritas. Die ORS hat sich als kommerzielles Unternehmen
auf die Unterbringung und Betreuung von Asylsuchenden spezialisiert und entwickelt
betriebswirtschaftliche Konzepte, die einen effizienten Einsatz öffentlicher
Mittel erlaubt. Selbst setzt sie mit ihren Aufträgen für Bund und
Kantone 10 Millionen Franken pro Jahr um, beschäftigt 250 Leute und betreut
3000 Asylsuchende in Erstaufnahme- und Durchgangszentren, bei Empfangsstellen
und in kommunalen Unterkünften.
Auch die «If AG-Dienstleistungen für
Soziale Sicherheit» ist auf Gewinn aus. Sie betreut im Auftrag des Kantons
Solothurn Arbeitslose und berät die Gemeindeverwaltungen in Sachen Sozialversicherung
und Vormundschaft. Konsequent steht das Unternehmen dafür ein, «das Soziale
zu ökonomisieren», wie sich Geschäftsleiter Guido Bürle ausdrückt.
Sozialarbeit dürfe nicht als Last, sondern müsse als Wertschöpfung
betrachtet werden: «Als Ökonom muss man sich überlegen, wie hoch
die alternativen Kosten wären, wenn es unsere Sozialarbeit nicht gäbe.»
Zu Beginn hatte es die Aktiengesellschaft schwer, in der Bevölkerung
als Unternehmen mit sozialer Ausrichtung akzeptiert zu werden. Man warf ihm
vor, wie eine Bank zu denken.
Inzwischen ist der ökonomische
Geist fast in allen Kantonen zu spüren. Überall dort, wo mit der
steigenden Arbeitslosigkeit Goldgräberstimmung bei Beratungs-, Weiterbildungs-
und Jobvermittlungsfirmen aufkam. Wie Pilze schossen Anbieter von Beschäftigungsprogrammen,
Motivationsseminaren, Sprach-, EDV-, technischen und persönlichkeitsfördernden
Kursen aus dem Boden. Schliesslich investiert der Bund allein für solche
Projekte 700 Millionen Franken jährlich.
Headhunter für hoffnungslose Fälle
In Zürich gibt es seit gut einem
Jahr gar einen Headhunter für hoffnungslose Fälle. «Maatwerk» heisst
das niederländische Unternehmen, das sich auf die Vermittlung schwervermittelbarer
Arbeitssuchender spezialisiert hat. Es sucht für 240 Leute versteckte
offene Stellen und klärt mit grossem Aufwand die individuellen Gegebenheiten
der Erwebslosen ab. Allerdings hat das Unternehmen seine Klienten unter 1300
Bewerbern aussuchen können. Zugleich arbeitet «Maatwerk» aber erfolgsorientiert:
Erst wenn eine Person dauerhaft (mindestens sechs Monate) für einen anständigen
Lohn (2700 Franken im Minimum) untergebracht ist, erhält die Firma für
diese Vermittlung 4000 Franken. Dem Zürcher Sozialamt hat «Maatwerk»
zudem versprochen, dass die Einsparungen die Kosten des Projekts bei den Sozialhilfeausgaben
mindestens kompensieren. Dies gilt bereits als sicher, denn die Projektkosten
liegen bei 1,4 Millionen Franken und die Einsparungen werden auf 3 Millionen
geschätzt.
«Maatwerk» plaziert die Erwerbslosen
nur im regulären, ersten Arbeitsmarkt. Und die Arbeitgeber erhalten keine
Subventionen. Bei der Konkurrenz ist das anders. Der Berner Verband «Arbeit
statt Fürsorge» sucht zwar ebenfalls Nischenplätze für Sozialhilfebezüger
im offenen Markt. Doch hier übernimmt die Fürsorge im privatwirtschaftlichen
Bereich bis zu 40, im öffentlichen bis zu 100 Prozent der Lohnkosten.
Der Verband arbeitet mit einem Budget von 3,8 Millionen Franken.
Auf dem zweiten Arbeitsmarkt ist das
Angebot an Stellen in der ganzen Schweiz bereits gross. Oft haben die alternativen
Geschäftsleute mit einer Selbsthilfeorganisation klein angefangen: Die
Betroffenen produzierten Obdachlosenzeitungen, verkauften Secondhandware,
reparierten Velos oder sammelten recyclierbare Bauabfälle und gründete
mit der Zeit ein eigenes Unternehmen. Die Caritas Konstanz hatte damit begonnen,
Sozialhilfeempfänger in einer eigenen Brockenstube zu beschäftigen.
Der Betrieb wurde in der Folge derart ausgebaut, dass heute Lehrlinge zu Recyclingfachleuten
ausgebildet werden – und Subventionen obsolet geworden sind.
Konkurrenz auf dem zweiten Arbeitsmarkt
Die Basler Genossenschaft «Overall»
ist mit ihren Betrieben der Gastronomie, des Baugewerbes, mit ihren Secondhand-Läden
und dem House Keeping-Angebot heute ebenfalls eine gestandene Organisation.
Die Zeiten sind indes härter geworden. Einerseits steht das Unternehmen
mit der Basler «Bauteilbörse» und der «Genossenschaft Mensch und Arbeit»
(Ge.M.A) in Konkurrenz. Andererseits gibt es keine «Staatsgarantie» mehr.
In den Jahren zuvor hatte die Öffentliche Hand das Defizit gedeckt. Nun
muss «Overall» seine 220 Arbeitsplätze für Schwervermittelbare an
Bund und Kanton förmlich verkaufen - à 1500 Franken. Das Risiko
trägt also die Genossenschaft und muss bis zu 25 Prozent des Budgets
mit dem Verkauf von Dienstleistungen und Produkten selbst erwirtschaften.
Auch im Kanton Solothurn ist man längst
vom Giesskannenprinzip abgekommen. Hier haben einige Sozialunternehmer mit
Fusion reagiert: Unter dem Dach «Perspektive» sind heute die Einrichtungen
für begleitetes Wohnen, Suchtprävention, Arbeitseinsätze, die
Alkohol-, Drogen- und Jugendberatung, die Gassenküche und die Drogenanlaufstelle
vereint. Die Organisation erhält dafür 1,3 Millionen vom Staat,
fehlende 2 Millionen Franken muss sie selber erarbeiten. Der Kanton Bern schliesslich
teilt künftig Gewinn und Verlust zwischen Staat und privaten Trägern
auf. Auch er vergibt Subventionen nur mehr mit Leistungsaufträgen - für
110 Million Franken pro Jahr.
Klar, seit jeher haben gemeinnützige
Träger einen Teil der sozialen Aufgaben des Staates übernommen.
Sei’s weil sie über mehr praktische Erfahrung verfügen – ein Jugendheim
lässt sich nun mal nicht wie ein Finanzamt managen -, sei’s weil Unabhängigkeit
Sinn macht – etwa wenn es um Schuldensanierung geht. Bisher war das aber ein
kartellistisch abgesprochenes Nebeneinander von Staat und etablierten Vereinen
oder Stiftungen sowie kirchlichen Organisationen. Doch ökonomisches Denken
macht nun mal auch vor der Produktion sozialer Güter und Dienste nicht
halt. Zumal der Staat ziemlich pleite ist, die Sozialausgaben aufgrund demografischer,
gesellschaftlicher und konjunktureller Entwicklungen stetig steigen - und
sich hartnäckig die Meinung hält, dass die Privatwirtschaft effizienter
und deshalb billiger sei. Damit dem auch in der Praxis so ist, sichern sich
die Kantone nun mit Leistungsaufträgen im Sozialbereich ab, die sie öffentlich
ausschreiben - als ob es um Arbeiten im Strassenbau ginge. Davon betroffen
sind in gleichem Masse Frauenzentralen, Alters-, Familien- und Jugendbetreuung,
Notschlafstellen, Wohngemeinschaften, die Hauskrankenpflege oder auch die
gesamte Suchtmittelberatungs- und –therapiebranche. Doch eine möglichst
günstige Offerte kann im Sozialwesen nur ein Aspekt sein. Es geht auch
(noch) um Qualität und Verantwortung. Um zu verhindern, dass das bisherige
Modell durch ein ungehemmtes System von Angebot und Nachfrage auf dem sozialen
Sektor abgelöst wird, ist der Staat also nach wie vor gefordert: Ein
sozialer Verbraucherschutz muss den bereits erkennbaren Systemwechsel hin
zu einem Markt jenseits des Wohlfahrtsstaates flankieren.
Perfekter Sozialkapitalismus
In Schweden versucht man die Qualität
damit zu sichern, dass die Subventionen und damit die Kaufkraft nicht
der Anbieter sozialer Dienste erhält, sondern der Nachfrager. Der
entzugswillige, obdachlose Alkoholiker sucht sich beispielsweise seinen
Therapieplatz unter den zahlreichen sich konkurrierenden Anbietern selbst
aus. Eine Umverteilung sozialer (Nachfrage-)Macht hin zu jenen, die die
sozialen Dienste auch in Anspruch nehmen. Fehlen nur noch die entsprechenden
Werbebanden unter den Brücken der Clochards und der Sozialkapitalismus
ist perfekt.
April 1999
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