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Scuola dell'infanzia Ligornetto Tessin: Scuola dell'infanzia
Zu Besuch in der Sonnenstube für Kinder

 

VON VERA BUELLER

Eine Katze am Schwanz zu ziehen, ist nicht nett! Auch nicht nett ist es, mit Steinen zu werfen, nicht zuzuhören oder ein Gschpänli zum Weinen zu bringen. Die Liste ist lang, auf der Kindergartenlehrerin Antonella Casanova die Erkenntnisse aufschreibt, die ihr die Drei- bis Fünfjährigen zurufen. «Und nett ist was?», fragt sie.  Die 23 Bambini sitzen eng beisammen auf dem Boden, grübeln, tauschen sich aus und feixen. «Dare baci», «aiutare», «salutare» (Küsschen geben, helfen, grüssen), sprudeln schliesslich die Gedanken.

Wir befinden uns in einer «Scuola dell’infanzia», nicht in einem Kindergarten – und dieser Unterschied ist wichtig: In der Tessiner «Scuola dell’infanzia» lernen die Bambini schon ab drei Jahren, sich in Gruppen von  maximal 25 Kindern gegenseitig zu helfen, Rücksicht zu nehmen, sich zu integrieren und Ordnung zu halten – sei’s beim freien Spielen, sei’s im Unterricht, beim gemeinsamen Essen oder während der Mittagsruhe. Das ganztätige Betreuungsangebot des Kantons geht davon aus, dass Kinderhaben nicht nur eine Privatangelegenheit, sondern auch ein gesellschaftlicher Prozess ist.  «Die ausserfamiliäre Betreuung, wie hier bei uns, hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, weil soziale Kompetenz heute kaum mehr in der Familie erlernt wird. Meist sind beide Eltern berufstätig und die Kinder wachsen einzeln oder mit nur einem Geschwisterteil auf», erläutert Antonelle Casanova ihre Aufgabe.

Kein Kindergarten-Feldweibel

Seit 36 Jahren unterrichtet und betreut sie in Ligornetto die Bambini im so genannten Asilo. «Ja, ich kenne schon fast alle Erwachsenen im Dorf von klein auf», lacht sie. Ihr Lachen wird von Gekreische jäh unterbrochen: Drei Buben balgen sich um ein Spielzeug. «Stopp! Ihr seid doch drei Freunde! Und Freunde streiten sich nicht», schreitet die Erzieherin ein. Zwar wirken die drei Streithähne nicht wirklich überzeugt, aber sie gehorchen und geben sich friedfertig die Hand.  Auffallend ist dabei Antonella Casanovas Ton, der nichts von einem Kindergarten-Feldweibel hat, sondern ruhig, ja geradezu nachsichtig wirkt. Ihrer Autorität tut das keinen Abbruch.

Und offensichtlich auch nicht ihrer Beliebtheit: Die dreijährige Emma hat auf dem Weg in die Schule einen Strauss Tulpen für ihre Lehrerin gepflückt und streckt ihn ihr nun entgegen: «Che bei fiori!» («Was für schöne Blumen»), ruft  die Pädagogin aus. Dabei besteht der Strauss nur aus grünen Stängeln – alle Blumenköpfe sind unterwegs abgefallen.

Derweil zeigt Marco, einer der grösseren Buben, einem dunkelhäutigen kleinen Mädchen wie es seine Jacke ordentlich aufhängen soll. Dass die Grandi den Piccoli helfen, gehört zum Konzept der Tessiner Scuole dell’infanzia. Die Eltern staunen oft, wie hilfsbereit und tolerant sich ihre Kinder im Asilo benehmen. «Nach den zehnwöchigen Sommerferien haben sie aber alle Disziplin verlernt und wir können  mit der Erziehung von vorn beginnen», seufzt Antonella Casanova.
Auf die Frage, ob es nie Spannungen aufgrund der Herkunft, des sozialen Milieus, etwa mit Migrantenkindern gebe, schüttelt sie heftig den Kopf. «Nein. Dafür sind sie zu klein. Das Andersartige weckt eher Neugierde und ist eine neue Erfahrung.» Doch es sei, räumt sie ein, nicht überall so problemlos. «In Orten, wo Familien nur kurz lebten oder die Kinder von Asylbewerbern kommen und gehen, da ist das Miteinander gewiss schwieriger.»

Ein enormes Pensum

Fertig geplaudert. Antonella Casanova fordert die Kinder auf, ihr in den grossen Saal zu folgen, wo Gymnastik angesagt ist. Zu Musik hüpfen und tanzen die Bambini ausgelassen, klatschen in die Hände, lachen und johlen.  Mitten drin die Lehrerin – keine Spur von Müdigkeit oder Anstrengung. Dabei ist das Pensum enorm, das sie und ihre Kollegin Manuela Scacchi Traversa, die eine zweite Gruppe von 24 Kindern betreut, absolvieren: Fünf Tage pro Woche, durchgehend von halb Neun bis nachmittags um Vier. Immerhin: «Nach Feierabend begebe ich mich in meinen Gemüsegarten und ertrage für eine Weile niemanden, nicht einmal meinen Mann», scherzt Manuela Scacchi, die auch schon seit 30 Jahren im Amt ist.

Mit ihrer Gruppe bespricht sie nun, was das Festa della mamma (der Muttertag) bedeutet. Dazu zeigt sie den Kindern Illustrationen von Muttertieren mit ihren  Cuccioli, den Jungen: Pinguine, Katzen, wunderschöne Schwäne. «Ist Eure Mutter auch so schön», fragt die Kindergärtnerin. «Sììì», tönt es aus 23 Kehlen. Nur Rebecca schert aus: «Mein Papà ist schön!» Alle applaudieren. Dann singen sie zu Ehren des Besuchs ein Kikeriki-Lied. Was eine Journalistin macht, will schliesslich Manuela Scacchi noch wissen. Die Kleinen sind ziemlich ratlos, aber Natan weiss die Lösung: «Sie kontrolliert alles!»

Und auf geht’s zur Leinwand. Mit Eifer tauchen sie die Pinsel tief in die Farbtöpfe, malen und spritzen. «Wir müssen für Abwechslung sorgen. Die Kinder können sich nicht so lange aufs Gleiche konzentrieren», erklärt Manuela Scacchi und deutet auf die Wände: Collagen, Zeichnungen, gebastelte Hampelmänner, Fotos von den Haustieren der Kinder – das Spektrum reicht von Kaninchen, Katzen und Hunden über Hühner, Ziegen, Schweine und Pferde bis zu Schildkröten, Enten und Stofftieren. Mal wird im Park herumgetollt, mal mit Lego, Bauklötzen oder der Holzautobahn frei gespielt, mal gebastelt, gezeichnet oder auch musiziert. 
Bei alle dem fällt auf, dass kein Wort Tessiner Dialekt gesprochen wird. Die Bambini lernen in allen Scuole dell’infanzia richtiges Italienisch, wobei der Sprachstil gut verständlich sein soll, nicht aber infantile. Das fördert nicht nur die sprachliche Fähigkeit, sondern erleichtert vor allem die Integration fremdsprachiger Kinder.

Besuch im Museum Vela

Ausserdem sollen die Kinder schon von klein an die Kultur heran geführt werden. So stand unlängst die Kunst im Zentrum eines ganzen Jahres. Die Lehreinnen besuchten mit der gesamten Kinderschar verschiedene Ausstellungen, wie etwa das berühmte Museo Vela im Dorf. Es ist eines der wichtigsten europäischen Künstlerhäuser des 19. Jahrhunderts. Noch heute sind die Bambini von den riesigen Gipsskulpturen des Bildhauers Vincenzo Vela tief beeindruckt. Dass sie vor allem Vorkämpfer des Risorgimentos, der Widervereinigung Italiens zeigen, wurde ihnen zwar erklärt, aber sie haben eher ihre Gschpänli in den Porträts erkannt: «Der eine sah aus wie Lorenzo», kichert Ryan.

Dieses Jahr steht unter dem Motto «das Buch». Dazu haben die Betreuerinnen ein überdimensionales Buch anfertigen lassen, in dem die Kinder ihren Unterricht dokumentieren. Die erste Seite ist unten angefressen und zeigt eine armselige Maus. Antonella Casanova erklärt die Moral der Geschichte: «Auch eine ausgehungerte Maus darf keine Bücher anfressen. Das hat mit Respekt im Umgang mit Büchern zu tun.» Wir blättern weiter und da geht es um Herbstfrüchte, um die Weinlese, um das Kastanien sammeln, aber auch um den Hunger und um kulturelle Unterschiede beim Essen. Die kleine Alice stellt sich neben uns und erzählt mit unverkennbarem Stolz: «Zu Hause essen wir nur Gemüse und Früchte.» Dank Alice haben die Kinder gelernt, was Vegetarier und was Veganer sind.

Das richtige Essen spielt in den Tessiner Scuole dell’infanzia eine zentrale Rolle. In dem grossen Doku-Buch veranschaulichen dies drei Kinderzeichnungen: Ein Bub isst vor dem Fernseher, einer während dem Velofahren und einer am Esstisch. Unter letzterem steht gross SÌ, bei den beiden anderen Szenen NO!
Auch das gemeinsame Mittagessen im Kindergarten dient nicht allein der Verpflegung, sondern hat eine pädagogische Funktion. Das beginnt schon beim Vorbereitungsritual: Nachdem sich die Bambini im Park ausgetobt haben, versammeln sie sich, gehen auf die kindergerecht kleinen WCs Pipi machen, waschen die Hände und warten artig, bis alle fertig sind. Dann begeben sie sich, ein Lied singend, gemeinsam an ihre Plätze – vier pro Tischchen. Kein Gerangel, aber auch kein übertriebener Drill.

Tagesmenue wie im Restaurant

Ryan gehört zu den Auserwählten, die heute eine weisse Schürze tragen und servieren dürfen. Als cameriere führt er seine Aufgabe mit Begeisterung aus, verteilt die Brotkörbchen, legt Besteck auf. Heute gibt es zuerst Rüebli, dann panierte Kalbsschnitzel mit Kartoffeln und Bohnen, zum Dessert Apfelkuchen. Das Tagesmenu hängt jeweils, wie in einem Restaurant, am Eingang des Asilo. Die Vorgaben fürs Menu – das immer aus einem Primo, einem Secondo und einem Dolce besteht – kommen vom Kanton: Je nach Tag gibt es Fleisch, Fisch oder Teigwaren, dazu meist Saisongemüse. In Ligornetto setzten Köchin Francesca und eine Küchengehilfin das Menu um. Und die Eltern bezahlen pro Mahlzeit 5 Franken, ansonsten ist die Scuola dell’infanzia gratis.

Nach dem Essen steht Zähneputzen und für die Kleinsten ein dreiviertelstündiges riposo auf dem Programm. Sie kuscheln sich zusammen mit ihren Stofftierchen auf die Klappbettchen, dösen oder lesen. Nur reden ist nicht erlaubt. Dazu spielt leise Musik – Beethoven.

Derweil werden die grösseren Kinder spielerisch an die Geometrie heran geführt. Sie sitzen auf dem Boden und lernen anhand unterschiedlich geformter Klötzchen, wodurch sich ein Quadrat von einem Rechteckt, einem Dreieck und einem Kreis unterscheidet. Dann sollen sie die gleichen Formen, aber unterschiedlich grosse Klötzchen gruppieren. Das schafft nur Natan auf Anhieb und lacht vergnügt – mit zwei Zahnlücken  vorne, auf die er mächtig stolz ist.

Aus heutiger Sicht hochmodern

Schon seit 150 Jahren lebt das Tessin seinen nördlichen Nachbarkantonen exemplarisch vor, wie man Kleinkinder betreuen sollte. Und nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sich die pädagogischen Erkenntnisse der italienischen Ärztin und Naturforscherin Maria Montessori (1870-1925) als Grundlage durch. Sie hatte erkannt, dass Kinder ab drei Jahren in ihrer Entwicklung besser gefördert werden, wenn sie in gemischtaltrigen Gruppen den Tag verbringen. In diesem Alter sind Neugierde, Entdeckungsfreude und Lerneifer besonders ausgeprägt. Auch soziale Kompetenz wie Team- und Dialogfähigkeit können kleinen Kindern leicht vermittelt werden. Aus heutiger Sicht ist das hochmodern: Auf dem Arbeitsmarkt entscheiden Kommunikationsbereitschaft, Flexibilität und Teamgeist über Erfolg und Karriere.

Von all dem weiss die dreijährige Emma nichts. Ihr genügt es, der Lehrerin mit ihrem Blumenstrauss eine Freude gemacht zu haben. Auf dem Heimweg erzählt sie es stolz ihrer Mamma.

September 2012
Der Text ist auxch erschienen im www.beobachter.ch

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Die «Scuola dell’Infanzia»

Die Scuola dell’Infanzia steht allen Kindern ab 3 Jahren zwischen 8.30 und 16 Uhr offen (Mittwochnachmittag ist schulfrei). Sie ist fakultativ, wird aber stark frequentiert – von 80% der Dreijährigen, 94% der Vierjährigen, 99,5% der Fünfjährigen. Mit der schrittweisen Einführung von Harmos, 2013 bis 2015, werden die letzten zwei Jahren obligatorisch. Die Kinderschule ist unentgeltlich, einzig für den Mittagstisch bezahlen die Eltern pro Mahlzeit je nach Gemeinde drei bis sieben Franken. Die finanziellen Ausgaben für den Kindergarten gehen zu Lasten der Gemeinden. Der Kanton beteiligt sich an den Ausgaben, indem er einen Beitrag an den Lohn der Lehrpersonen leistet – je nach Finanzkraft der Gemeinden zwischen 30 und 70 Prozent. Insgesamt belaufen sich die Aufwendungen für die Kindergärten im Kanton Tessin auf rund 100 Millionen Franken pro Jahr (ca. 12‘000 Franken pro Kind).

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