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 Pflanzen im Nachbarrecht:
Wild wucherts im Paragrafenwald

 

VON VERA BUELLER

Der Krieg begann harmlos. Es ging lediglich um eine alte Birke, die auf dem Grundstück des Ehepaars O. nahe der Grenze steht und im Laufe der Jahrzehnte eine stattliche Höhe von annähernd 20 Metern erreicht hat. Je mehr sie wuchs, desto mehr ärgerte sich der Nachbar über den Baum. Im September 2006 schaltete er schliesslich einen Anwalt ein, der das Fällen der Birke verlangte. Sie werfe zu viel Schatten, verbreite Blütenstaub und Laub. Schlimmer noch: Tausende von Birkenwanzen würden sich in Bad, Küche und Kleiderschrank seines Klienten tummeln. «Beim Versuch, diese Insekten einzusammeln, sondern sie ein übel riechendes Sekret ab», behauptete der Anwalt.      

Elisabeth O. war perplex.  Nicht nur, dass sie selber noch nie irgendwelche Wanzen bei sich festgestellt hatte. Vielmehr staunte sie über die plötzliche Umgangsform unter Nachbarn. Sie waren einst richtig gut befreundet gewesen. «Kein Gartenzaun trennte uns. Und die hohen Bäume, der Wald hinter dem Haus und auch die Birke empfanden alle als Bereicherung», sagt sie. Doch nun liess der Nachbar einen Maschendrahtzaun hochziehen. Und sein Anwalt machte die gesetzlich vorgeschriebenen Grenzabstände geltend, die bei der Bepflanzung eines Grundstücks eingehalten werden müssten.
Tatsächlich dürfte man in ländlichen Gebieten im Kanton Solothurn – wo sich der Kriegsschauplatz befindet – eine Birke nicht näher als 3 Meter zur Nachbarsgrenze pflanzen. Im vorliegenden Fall sind es nur 2,50 Meter.  Der Aufforderung, den Baum zu fällen, kam das Ehepaar O. dennoch nicht nach: Schliesslich wurde der Baum vor mehr als 35 Jahren gepflanzt. «Er stand hier schon, als unser Nachbar sein Haus baute. Und dass Bäume wachsen, wusste er schon damals», verteidigt Elisabeth O.  ihre so liebgewonnene Birke. Zu des Nachbars Leidwesen ist sie im Recht: Im Kanton Solothurn verjährt der Anspruch auf die Beseitigung von Bäumen, die zu nahe an der Grenze stehen, bereits drei Jahre nach der Pflanzung.

Je nach Kanton verschieden... top

Etwas anders sieht es in den Nachbarkantonen aus: in Bern sind es 5 Jahre, in Baselland 10 Jahre. Genf hat eine Frist von 30 Jahren festgelegt und sieben Kantone kennen überhaupt keine Verjährung – wie beispielsweise der Kanton Aargau. Hier haben die Gerichte allerdings eine so genannte Verwirkungsfrist anerkannt. Eine solche steht zwar nicht im Gesetz, wird aber dennoch in Einzelfällen angewendet. Das verkompliziert das Pflanzen von Bäumen, Sträucher und Hecken zusätzlich.

Dabei muss man sich so schon durch einen Urwald von Paragraphen kämpfen: Als erstes muss der Hobbygärtner klären, ob es sich bei seinem Gewächs um einen hochstämmigen Baum, um einen hochstämmigen Obstbaum, um einen Zwergobstbaum, einen kleines Zierbäumchen, einen Einzelstrauch oder um den Bestandteil einer Grünhecke handelt. Spezielle Kategorien bilden zudem Reben und Wälder.

Desweitern hat es der Bund im Zivilgesetzbuch den Kantonen frei gestellt, Regelungen über den Abstand von Pflanzen zu erlassen. Davon haben sie eifrig Gebrauch gemacht: Alle Kantone haben ihre eigenen Vorschriften. So variieren die einzuhaltenden Grenzabstände für Bäume zwischen 2 und 8 Metern – gemessen wird ab Mitte Baumstamm. Hecken dürfen je nach Kanton direkt an der Grenze, in einem bestimmten Abstand oder je nach Höhe mehr oder weniger nah zum Nachbargrundstück gepflanzt werden.  Ausserdem kommen in einigen Gemeinden die Bau- und Zonenreglemente zur Anwendung, wo die erlaubte Höhe für Grenzmauern auch für Hecken gilt.

Eskalation im Paragraphen-Dschungel top

Der Sinn und Zweck dieser Gesetze besteht darin, die verschiedenen nachbarschaftlichen Interessen auszugleichen und Ordnung zu schaffen. Im Fall der Birke auf dem Grundstück O. trugen die Paragraphen allerdings eher zur Eskalation des Streits bei. Plötzlich behauptete der Nachbar nämlich, dass die Wurzeln des Baumes seine Sickerleitung durchwachsen hätten, was zu einem massiven Wasserschaden geführt habe. Er forderte Schadenersatz von 67‘000 Franken und berief sich aufs so genannte Kapprecht: Es erlaubt, überhängende Äste oder Wurzeln eines Nachbarbaums zu kappen, sofern diese Schäden verursachen. Allerdings muss man dem Baumeigentümer zuerst eine angemessene Frist zur Beseitigung einräumen und erst wenn er dieser Aufforderung nicht Folge leistet, darf man selber (fachgerecht) zur Axt greifen. 

Das Ehepaar O. und deren Anwalt bestritten jedoch, dass die Voraussetzung fürs Kapprecht gegeben sei: Die Birke verursache keinerlei Schäden. Darauf schlug die Stunde der Gutachter. Zuerst attestierte ein Experte dem Baum uneingeschränkte Gesundheit. Dann kamen gleich zwei Gutachten zum Schluss, dass die Sickerleitung fehlerhaft gebaut wurde und die Ursache des Wasserschadens somit nicht bei den Birkenwurzeln zu suchen sei. Der Triumph war den Os nicht lange vergönnt: Zuerst verschloss der Nachbar den Abfluss ihres Swimmingpools. Dann reichte er ein Baugesuch für einen Keller ein – was das Kappen der Wurzeln endgültig erforderlich machen würde.

Nun entbrannte der Streit ob der Frage, wer die Kosten für die Sicherung der Birke zu tragen hat, da diese mit dem Abschneiden der Wurzeln umsturzgefährdet wäre. Der Ton in den Schreiben der Anwälte wurde schriller. Der Nachbar – der sich gegenüber dem «Beobachter» nicht äussern will – brachte nun erstmals den Begriff «Kriegserklärung» ins Spiel und attackierte auch die grossen Tannen, den Nussbaum, ja den gesamten Baumbestand auf der Liegenschaft O. Die von den hohen Bäumen verursachten Immissionen seien nämlich derart gross, dass auch seine oberflächlich verlegte Erdregister-Heizung nicht mehr richtig funktioniere.

Der Baum ist bloss der Anlass zum Prozessierentop

Friedensrichter Heinz Rüegger wurde angerufen. Das Ehepaar O. machte das Angebot, die Bäume regelmässig zu schneiden und zwar massiv. Doch der Nachbar blieb stur. Zum konkreten Fall darf sich der Richter zwar  nicht äussern, aber die Bilanz seiner langjährigen Tätigkeit ist eindeutig: «In vielen Fällen ist das Verhältnis zwischen Nachbarn derart belastet, dass ein Vergleich aussichtslos ist. Der Baum, der zu nah an der Grenze steht, ist dann bloss der Anlass für einen Prozess. Das tatsächliche Problem liegt meist tiefer», sagt er. Nach einem Urteil könne sich zwar der eine als Sieger fühlen. Doch der Seelenfriede kehre damit nicht ein. Oft stünden sich die Nachbarn bald wieder vor Gericht gegenüber – nur klage diesmal die andere Seite.

Die Prozessthemen sind nahezu so vielfältig wie die Pflanzenarten: Mal ist es ein Knallerbsenstrauch, der einem Nachbar das Leben vergällt, mal ist es die Aussicht aufs Bergpanorama, die durch eine Hecke verwehrt wird. Oder aber unüberwindbare kulturelle Unterschiede führen zum Eklat: ein Mathematiker, der jeden quer wachsenden Grashalm auf seinem Rasen eliminiert; daneben eine Esoterikerin, von deren Naturwiese sich Unkrautsamen ausbreiten. Mal sind es einzelne Bambushalme, deren Alter begutachtet werden, mal tropfende Harze, Laub- und Nadelanfall, die Dachrinnen und Abflussroher verstopfen – was der Nachbar in der Regel hinnehmen muss, so lange der Laubfall im Ausmass ortsüblich ist. 
Doch was ist ortsüblich, was übermässig?  Es gibt ein präjudizierendes Urteil des Bundesgerichts, das übermässigen Schattenwurf als Immission im Sinne des zivilrechtlich geregelten Nachbarrechts qualifiziert und die Fällung einzelner Bäume angeordnet hat – obwohl sie aufgrund der kantonalen Bestimmungen zulässig waren. Dieses Urteil hat unter den Juristen zu einer grossen Verunsicherung geführt.

Auch beim Ehepaar O. Das Gericht wird nun wohl als nächstes einen Augenschein nehmen, die Ortsüblichkeit, die Lage und Beschaffenheit beurteilen, Windverhältnisse, Pflanzenteile-Abwurf, Sonneneinstrahlung, Lichtdurchlässigkeit, Laubabwurf und Reinigungsaufwand analysieren. Derweil will der Nachbar mit dem Kellerbau beginnen. Nimmt die Birke dadurch Schaden, kann das Ehepaar O. Schadenersatz für eine gleich grosse Birke verlangen – es gibt Gerichtsurteile, die einer alten Eiche einen Wert von 60‘192 Franken und einer dicken Esche einen von 29‘500 Franken zugesprochen haben…

Links:
http://www.nachbarrecht.ch/index.php/pflanzen
http://www.hev-schweiz.ch/recht-steuern/nachbarrecht/

September 2009 top

 

Weiterhelfende Literatur:

  • «Bäume und Sträucher im Nachbarrecht», Andreas Wasserfallen, Jardin Suisse , 62 Seiten, 40 Franken. Die Broschüre bietet eine umfassende Übersicht über sämtliche Bestimmungen in allen Kantonen und kategorisiert die ortsüblichen Bäume und Sträucher.
  • «Pflanzen im Nachbarrecht», Lukas Roos, Schulthess-Verlag, 294 Seiten, 78 Franken
  • «Nachbarrecht», Mathias Birrer, Beobachter-Buchverlag, 240 Seiten, 32.80 Franken
  • «Nachbarrecht», Monika Sommer, Hauseigentümerverband Schweiz, 296 Seiten, 39.50 Franken