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MiGeL Stiftung OTAF
Trotzdem ist Brendon ein zufriedenes Kind

 

Text: VERA BUELLER
Fotos: JACEK PIOTR PULAWSKI

Die Welt ist weit weg hier oben, in Sorengo bei Lugano, wo im letzten Jahrhundert eine kleine Stadt für Behinderte entstand, halb Therapiezentrum halb Pflegeheim. Hier kann man Antworten finden auf schwierige Fragen. Auf Fragen über den Wert des Lebens, über die Würde des Menschen, über Glück, Trauer und Tod. Voraussetzung ist allerdings die Bereitschaft, sich auf die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen einzulassen, die hier von der Stiftung OTAF betreut werden. Einlassen mit allen Sinnen, wie das der Fotograf Jacek Pulawski getan hat: Zuerst absolvierte er ein achtmonatiges Volontariat im Heim – ohne Kamera, «nur um diese andere Welt kennen zu lernen», wie er sagt. Später kehrte er zurück um zu fotografieren, suchte während Wochen nach den richtigen Bildern; Bilder, die Gemütsverfassungen wie Freude, Liebe, Ruhe, manchmal auch Leid zeigen.  «Es war schwierig, mit der Kamera das einzufangen, was ich zuvor als Volontär gesehen und gespürt hatte», erinnert er sich. Oft sei er frustriert gewesen, «man müsste einen Chip im Auge haben, auf dem man mit einem Wimpernschlag den jeweils richtigen Moment speichern könnte».

Seine Antworten hat er dennoch gefunden   und gibt sie mit eindrücklichen schwarz-weiss Fotos weiter. Besonders ergreifend sind die Bilder vom 12jährigen Brendon; ein Kind, dessen Muskeln immer mehr ihre Funktion aufgeben. Die zunehmende Lähmung führt unweigerlich zum frühen Tod (siehe Kasten).

Trotzdem ist Brendon ein zufriedenes Kind. Er sitzt im Rollstuhl und lässt den Spital-Clown, der die Abteilung regelmässig besucht, keinen Moment aus den Augen. Den Trick mit einem weggezauberten Kugelschreiber hat der Junge sofort durchschaut. Er lacht und klatscht in die Hände. Selber verzaubert er mit seinem fröhlichen Gemüt täglich seine Umgebung: «Er ist ein Lichtblick im Alltag und erleichtert uns allen die Arbeit», sagt seine Betreuerin Elisa Grignoli. Dass er seit drei Jahren nicht mehr laufen kann, habe er einfach so, mit einem Schulterzucken hingenommen und gemeint, «sie gehen halt nicht mehr, die Beine».

Nicht mit der Erbarmungslosigkeit der Bilogie gerechnet

Seit 2003 lebt Brendon im OTAF. Seine Eltern hatten nicht mit der Erbarmungslosigkeit der Biologie gerechnet: Nie zu sehen, wie Brendon Fahrrad fährt, Bücher liest, sich verliebt, vielleicht selber Kinder bekommt, ein «normales» Leben lebt – das hielt die Ehe nicht aus. Unter dem Druck wachsender sozialer Probleme gab die Mutter den Bub schliesslich schweren Herzens ins Heim, wo die IV für die Kosten aufkommt. Dort besucht sie ihn regelmässig.

Hier lebt er wie in einer grossen Familie mit vielen Kindern mit den unterschiedlichsten Diagnosen, umsorgt von zahlreichen Betreuerinnen. Ruhige Atmosphäre, Geborgenheit. In Brendons Zimmer hängen Kinderzeichnungen und ein Spiderman- Plakat; Spielzeugrennautos, kleine Bagger, Helikopter, Stofftiere und Legosteine liegen herum – ein ganz «normales» Kinderzimmer.  Jacek Pulawski beobachtet das Spiel mit dem Clown und sagt: «Stellen wir uns nur einmal für einen Moment vor, wir alle wären so wie Brendon. Keine bösen Absichten und Hintergedanken, kein  Hass – nur die kindliche Naivität, sich in eine Realität entführen zu lassen, die wirklich tolle Magic Moments bereithält.» Er zieht den Vergleich zur Film-Figur «Forrest Gump» und fährt fort: «Dann sieht man in einem Kind wie Brendon vielleicht nicht mehr nur einen Behinderten, sondern erkennt einen glücklichen Menschen mit reinen Gefühlen.»

Doch sogleich korrigiert sich der gebürtige Pole, denn das Wort «Behinderte» hat er eigentlich aus seinem Vokabular gestrichen. Behinderung sei bei einem Kind wie Brendon nicht das wesentliche Merkmal, sondern nur ein Teil seiner Besonderheit. So, wie eben jedes Kind besonders sei, behindert oder nicht. Wenn er im Vergleich zu Brendon an die angeblich normalen Jugendlichen denke, die er täglich in Zügen oder Bussen sehe, die Kopfhörer ihres iPods in die Ohren implantiert – «da ist null Kommunikation! Und man muss sich unweigerlich fragen, bei wem Defizite und Verhaltensstörungen bestehen.»

Was fehlt, ist Selbstreflexion – zum Glück

Gewiss, mit Brendon kann man keine langen Gespräche führen, zumal er nebst der Muskelkrankheit auch unter gewissen geistigen Störungen leidet. Aber er spricht und versteht,  jedoch in seiner Welt – was fehlt, ist die Selbstreflexion. Zum Glück. So ist er zumindest frei von gesellschaftlichen Ängsten. Es hat in seinem Leben keinen 11. September gegeben, er kennt keine Klimakatastrophe und keine Arbeitslosigkeit. Seine Betreuerinnen sind denn auch überzeugt, dass Brendon glücklich ist. Aber sie reden die Situation keineswegs schön. Geistig sei er bis heute nicht im Grundschulalter angelangt; Buchstaben würden für ihn Ornamente bleiben. Und die Zukunft verheisst wenig Gutes, denn heilbar ist seine Krankheit nicht; man kann nur versuchen, die Selbstständigkeit des Körpers mit Physiotherapie so lange wie möglich zu erhalten.  

Mit  Begriffen wie Heilung oder Erfolgsquote können die Betreuerinnen ohnehin kaum aufwarten, sie sprechen von kleinen Fortschritten und überraschenden Reaktionen. «Für uns ist das Alltag», sagt Laura, die Brendon mitbetreut. Zugleich kennt sie die Gefahr der Routine, die abstumpft. «Die Sensibilität müssen wir uns bewahren.» Deshalb waren sie und Elisa sofort begeistert dabei, als  Jacek Pulawski sein Fotoprojekt vorstellte, mit dem er die Gesellschaft für Menschen wie Brendon sensibilisieren will. Aber als dann die ersten Fotos vorlagen, seien sie doch erschrocken: «Sie waren derart stark und direkt – aber ehrlich», erinnert sich Elisa. Jemand, der die Situation nicht kenne, könnte beim flüchtigen Betrachten glauben, hier sei nur Leid. «Das ist falsch: Hier ist viel Glück, Liebe, Freude, Zufriedenheit.» Diese Botschaft des Fotografen habe sie erst mit der Zeit begriffen. «Man muss sich auf seine Arbeit einlassen.»

Pulawski ist ein Überzeugungstäter, der mit seinen Fotografien zum Nachdenken über Sprache, Menschen, Gefühlslandschaften anregen will. Dabei faszinieren ihn besonders Menschen ohne hohes Ansehen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Und er hat Erfolg damit: Für seine Bilder von Flüchtlingen wurde er 2009 mit dem Swiss Press Photo-Preis ausgezeichnet und 2010 erhielt er den Swiss Photo Award für eine Reportage über Prostituierte. «Bei diesen Arbeiten wurde mir bewusst, dass gerade diese Menschen ein starkes Gefühl von Reinheit und Mut zum Leben ausstrahlen.»

Bilder mit Fragen über Leben und Tod verknüpft

Das will er dokumentieren. Seine Bilder wollen aber auch unbequem sein:  «Sie sind eng verknüpft mit Fragen über Leben und Tod, wertes und unwertes Leben», sagt er. Behinderteneinrichtungen, die Orte abseits der Wahrnehmung, seien schon immer Spiegel der Gesellschaft, ihrer Werte, Ängste und Aggressionen gewesen. Er selbst findet die Antworten auf solche Sinnfragen im Glauben, tief verwurzelt im katholischen Polen seiner Herkunft.  Daraus schöpft er wohl auch die Kraft, bei seiner Arbeit Inhalt und Botschaft über den kommerziellen Gewinn zu stellen. «Ich durchlebe dafür einen Reifeprozess und fühle Befriedigung. Auch wenn es manchmal schwer fällt, mit dem Geld bis zum Monatsende auszukommen. Aber an Brot hat es mir noch nie gefehlt», sagt er und lacht.

Brendon sitzt inzwischen am Computer und rast im virtuellen Rennauto geschickt an allen Hindernissen vorbei. Draussen auf der Kantonsstrasse rauscht der echte Verkehr.

Juli 2012
Der Text ist auxch erschienen im www.beobachter.ch

Siehe auch:

Duchenne-Muskeldystrophie

Die Muskeldystrophie vom Typ Duchenne ist eine nicht heilbare Erbkrankheit, von der primär Knaben betroffen. Die ersten Anzeichen sind eine Schwächung der Beckengürtelmuskulatur – die Kinder stolpern und fallen häufig. Im weiteren Verlauf ist die Arm- und Schultermuskulatur betroffen, früher oder später auch die Herz- und Atemmuskulatur. Die Lebenserwartung beträgt je nach Verlauf bis zu 40 Jahre, oft tritt der Tod jedoch noch vor der Pubertät ein.

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Die Stiftung OTAF

1917 gegründet, galt der Zweck der Organisation OTAF primär der Tuberkulose-Bekämpfung. Ab 1960 spezialisierte sie sich auf Hirnschädigungen und baute ihr Angebot in Sorengo bei Lugano stetig aus. Derzeit betreut und rehabilitiert die vom Kanton massgeblich unterstützte Stiftung 320 Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit einer leichten bis sehr schweren geistigen und körperlichen Behinderung. Sie bietet Wohnmöglichkeiten, dient als Tagesstätte und als Ambulatorium für Physio- und Ergotherapie. Die OTAF beschäftigt 300 Angestellte, 30 Volontäre und 10 Lehrlinge.

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