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 Tessin
Löhne fast wie in Bangladesh

 

VON VERA BUELLER

Hugh Jackman trug sie im Film «Wolverine». David Beckham posierte damit für seinen Kalender. Für Denzel Washington, George Clooney, Tom Hanks, John Cleese, Bill Murray oder Bruce Willis ist sie das erste Kleidungsstück, das sie am Morgen anziehen: die Unterhose von «Zimmerli of Switzerland». Gefertigt wird das teure Stück aus feinster ägyptischer Baumwolle in Coldrerio im Südtessin von fleissigen italienischen Näherinnen. Dass sie dafür einen Lohn akzeptieren, der im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt kaum höher liegt als der einer Textilarbeiterin in Bangladesch, ist einer der Gründe, weshalb der Kanton Tessin mit fast 70 Prozent der Masseneinwanderungsinitiative zugestimmt hat.

Den zweiten Grund für das deutliche Ja – neben dem weit verbreiteten Lohndumping – kann man jeden Morgen und Abend zum Beispiel in dem kleinen Dorf Ligornetto bei Mendrisio beobachten. Dann wälzen sich mehr als zehntausend Autos von oder zu der nahen italienischen Grenze durch die engen Gassen. Die eigentlich abseits der Verkehrsströme gelegene Ortschaft wird von den Grenzgängern als Schleichweg benutzt, um die obligaten Morgen- und Abendstaus auf den Hauptverkehrsachsen zu umfahren – zum Ärger der einheimischen Bevölkerung, die dafür ihrem Unmut am 9. Februar an der Urne Ausdruck verliehen hat.

Jeden Tag kommen 60’000 «Frontalieri» zur Arbeit in den Kanton Tessin – vorwiegend im eigenen Auto. Zusätzlich fahren zahlreiche, in Italien sesshafte Firmen mit ihren Arbeitern über die Grenze, um im Tessin Aufträge auszuführen. Allein im Januar haben sich dafür 1600 italienische Firmen aus den Bereichen Bau und Gewerbe angemeldet. Und dann noch die vielen Selbstständigen und Scheinselbstständigen, die – bezogen auf das Schweizer Lohnniveau – für ein Butterbrot und ein Ei Wohnungen putzen, Bäume schneiden, Rasen mähen oder Betagte pflegen.

Wenn der Italiener von hinten lichthupt

Ein weiteres Phänomen hat die Stimmung in der Schweizer Sonnenstube zusätzlich verschlechtert: In den letzten Jahren siedeln sich immer mehr italienische Firmen im Südtessin an, vor allem aus der Logistik- und Textilbranche. Sie profitieren vom unbürokratischen Umgang mit den Schweizer Behörden, tiefen Steuern, schnellen Bewilligungen und dem fast unbegrenzten Arbeitsmarkt der 9 Millionen-Region Lombardei mit ihren günstigen Fachkräften. Tessiner Personal entdeckt man in diesen Unternehmen fast keines – auch die Chefs kommen alle aus Italien.

Überhaupt findet die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zwischen Italienern und Tessinern nicht mehr nur, wie früher, bei den wenig Qualifizierten statt. «Eine Luganeser Anwaltskanzlei, die eine Sekretariatsstelle neu vergeben muss, findet beispielsweise in Mailand für den Lohn einer Tessiner Sekretärin eine motivierte studierte Juristin, die nicht nur Protokolle schreiben und Termine überwachen, sondern auch Fälle selbstständig bearbeiten kann», weiss Michele Rossi von der Tessiner Handelskammer.

Dass die Italienerinnen und Italiener sich im Tessin oft so verhalten, als wären sie dort zu Hause, ist zwar erklärbar. Schliesslich sprechen sie die gleiche Sprache – sogar der Dialekt ist derselbe – und sie schauen die gleichen einfältigen italienischen Fernsehprogramme. Aber wenn der Raser aus dem lombardischen Cantù mit Tempo 120 an den Rücklichtern des Tessiner Autofahrers klebt und mit der Lichthupe drängelt, dann wird das von diesem nicht einfach als individuelles Fehlverhalten, sondern als Folge einer aus dem Ruder gelaufenen Personenfreizügigkeit interpretiert.

Sind Arbeiter oder Arbeitgeber schuld?

Das Resultat sind dann eben fast 70 Prozent ja zu einer Initiative, die verspricht, das Problem durch Restriktionen zu lösen. Dass die grosse Mehrheit der Tessinerinnen und Tessiner der SVP-Initiative zugestimmt hat, bedeutet jedoch nicht, dass sie mit deren Rezepten einverstanden ist. Überhaupt hat man im Tessin den Eindruck, dass Politik und Bevölkerung nicht wirklich glauben, dass die angenommene Initiative das Problem lösen kann. Nur so lassen sich die zahlreichen politischen Vorstösse und Forderungen erklären, die seit dem 9. Februar auf Kantonsebene lanciert worden sind.

Dabei stehen sich zwei Stossrichtungen gegenüber: Bürgerliche Parteien und Wirtschaft zielen direkt auf die «Frontalieri». Verschiedene Massnahmen – wie beispielsweise mehr Bewilligungsbürokratie – sollen ihnen das Arbeiten im Tessin vermiesen. Linke und Gewerkschaften orten das Problem anderswo, nicht beim Bauarbeiter aus Viggiù oder der Verkäuferin aus Como, nicht beim Bankangestellten aus Varese oder der Coiffeuse aus Malnate. Für sie ist das Problem hausgemacht: Es seien schliesslich einheimische Arbeitgeber, die Grenzgänger mit tieferen Löhnen anstellten. Es seien einheimische Privatpersonen, die für ihre Gartenarbeiten italienische Schwarzarbeiter beschäftigen. Und es seien Tessiner Behörden und Gemeinwesen, die aus purem Eigeninteresse Lösungen blockieren.

Kampf durch alle Instanzen gegen die Nachbargemeinde

So bekämpft die Gemeinde Stabio durch alle Instanzen eine Verkehrsberuhigungsmassnahme der Nachbargemeinde Ligornetto – ironischerweise zusammen mit einer italienischen Europa-Parlamentsabgeordneten aus Varese. Ligornetto will, versuchsweise für ein Jahr, am Morgen und am Abend während der Stosszeiten den Durchgangsverkehr sperren. Dazu muss man wissen, dass Stabio – eine reiche Gemeinde mit tiefem Steuerfuss – seit Jahren eine offensive Anwerbepolitik für italienische Firmen betreibt.

Oder Chiasso. Die kleine Grenzstadt hat – kurz vor dem Abstimmungskampf zur Masseneinwanderungsinitiative – unter dem Titel «Benvenuta Impresa» (Unternehmen willkommen) italienische Firmen dazu eingeladen, sich in Chiasso niederzulassen. 178 italienische Firmen meldeten sich für eine Veranstaltung der Gemeinde an; 80 Prozent davon Dienstleistungsunternehmen.
Eine solch aggressive Abwerbepolitik in Italien steht nicht nur quer zum Ja zur Masseneinwanderungsinitiative. Sie hat auch Reaktionen in der Lombardei provoziert. Der Präsident der Region Lombardei, Roberto Maroni, plant nun eine Reihe von Massnahmen gegen die Abwanderung von Firmen in die nahe Schweiz. «La Lombardia per le Imprese» (die Lombardei für die Unternehmen) sieht unter anderem staatliche Finanzhilfe an kleinere und mittlere Betriebe und ein Entgegenkommen bei den Gemeinde- und Regionalsteuern vor.

Das Zauberwort: Steuern

Steuern ist auch das Zauberwort, mit dem der freisinnige Tessiner Nationalrat Ignazio Cassis das Grenzgängerproblem in den Griff bekommen will. Heute zahlen die «Frontalieri» ihre Steuern im Tessin, genau gleich wie die einheimischen Arbeitnehmer. Nur werden sie den Grenzgängern direkt vom Lohn abgezogen (Quellensteuer). Damit sie nicht zwei Mal zur Kasse gebeten werden, sind sie in ihrer italienischen Wohngemeinde von der Steuer befreit. Unter dem Strich zahlen sie dadurch nur etwa die Hälfte der Steuersumme, die sie bei einem Arbeitsverhältnis in ihrem Heimatland zu begleichen hätten. Von den im Tessin eingenommenen Steuern fliessen 38,8 Prozent an die italienischen Wohngemeinden.

Das Ganze basiert auf einem italienisch-schweizerischen Abkommen von 1974 und betrifft jene Grenzgänger, die im Umkreis von maximal 20 Kilometern zur Schweiz wohnen.

Das will Cassis und mit ihm Regierung und Parlament des Kantons grundlegend ändern. Der freisinnige Nationalrat erklärt das so: «Müssen die 60’000 Grenzgänger in Italien und nicht mehr im Tessin Steuern zahlen, brauchen Sie mehr Geld und verlangen so im Tessin mehr Lohn: Die unfaire Konkurrenz gegenüber den Tessinern sinkt.»

Mit dieser Logik kann der Tessiner Gewerkschafter und Unia-Kopräsident Renzo Ambrosetti nichts anfangen. Für ihn ist die «unfaire Konkurrenz» nicht der italienische Arbeitnehmer, den es mit höheren Steuern zu bestrafen gilt, sondern der Tessiner Arbeitgeber, der Tieflöhne zahlt. «Diese billigen Arbeitskräfte befinden sich gar nicht in einer Position, in der sie über ihren Lohn verhandeln können. Die Folge wird sein, dass sie gleich wenig verdienen wie heute, aber zusätzlich Geld an den italienischen Fiskus abgeben müssen.»

Höhere Steuern oder Mindestlohn?

Mit Cassis teilt Ambrosetti indes die Ansicht, dass man das Problem nur dann lösen kann, wenn es gelingt, den Lohnunterschied zwischen Einheimischen und «Frontalieri» möglichst zu beseitigen. Cassis will das mit höheren italienischen Steuern, der Gewerkschafter mit einem Mindestlohn erreichen.

Eigentlich müssten die Arbeitgeber den «Frontalieri» bereits heute die gleichen Löhne wie den Einheimischen bezahlen, wo es einen allgemein verbindlichen Gesamtarbeitsvertrag gibt. Das verlangen die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit. Wird das nicht kontrolliert?

«Natürlich wird kontrolliert», sagt Ambrosetti. So müssten die italienischen Arbeitgeber zum Beispiel mit einem Bankauszug belegen, dass sie den entsprechenden Schweizer Lohn dem Arbeiter überwiesen haben. «Doch was passiert dann? Der Arbeiter muss zu Hause einen Teil wieder dem Boss retournieren. Wie will man das kontrollieren?»

Mit der Annahme der SVP-Initiative ist das Schicksal der flankierenden Massnahmen ohnehin ungewiss – und damit auch das Tessiner Lohnniveau. Ambrosetti stellt deshalb lapidar fest: «In der Konsequenz müssten die Tessiner im gleichen Mass wie sie die SVP-Initiative angenommen haben, im Mai an der Urne auch Ja zu einem gesetzlichen Mindestlohn sagen.»

«Sollen sie doch zurück über die Grenze»

Ignazio Cassis sieht das natürlich ganz anders: «Das wäre ein enormer Magnet für Grenzgänger. Und ein Mindestlohn von 4000 Franken würde viele Firmen in den Ruin treiben» Oder sie müssten ihren Sitz in das «günstigere» Italien verlagern.

Damit wäre allerdings auch ein Teil des Grenzgängerproblems gelöst, denn betroffen wären vor allem italienische Firmen im Tessin mit italienischen Beschäftigten. «Sollen sie doch zurück über die Grenze oder Konkurs gehen. Sie bringen fürs Tessin kaum Wertschöpfung. Was wir brauchen, sind hoch qualifizierte, innovative Betriebe», begründet Renzo Ambrosetti sein hartes Urteil.

Betroffen wäre aber auch die Luxusschneiderei «Zimmerli of Switzerland» in Coldrerio. «Kommt die Initiative durch, sind wir gezwungen, unsere Produktion 10 Kilometer nach Süden zu verlegen», sagte Marcel Hossli, der Chef von Zimmerli, bereits im letzten Oktober gegenüber dem Tagesanzeiger. Nur: «Zimmerli of Switzerland», das geht dann nicht mehr. Und ob George Clooney und Co. dann noch immer als erstes Kleidungsstück eine Zimmerli-Unterhose überstreifen?

März 2014
Der Text ist auch erschienen im www.beobachter.ch

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