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 Klimawandel:
Tessin ist überall – wenn die Deutschschweiz zur Sonnenstube wird

 

VON VERA BUELLER

Tobias Suter beisst die Zähne zusammen – «ab dem hundertsten Mückenstich tut es weh», bemerkt er leise und nach einer kurzen Pause fügt er kaum noch hörbar hinzu, dass dann auch der Arm mehr und mehr anschwelle. 600 Stiche täglich muss er aushalten und das über Wochen. Tobias Suter befindet sich in einem Testlabor und hält den Unterarm in ein «Terrarium», in dem sich 600 Tigermücken befinden, die nach Blut lechzen. Der Mückenexperte erklärt, dass alle Versuche, die Mücken auf andere Art – etwa maschinell – zu «füttern», gescheitert seien. «Es braucht Schweiss, Blut und Körperwärme für die Aufzucht.» Ergo habe er sich geopfert.

Kein Aufwand war ihm zu gering für seine Doktorarbeit über die Tigermücke (Aedes albopictus). Während zweier Jahre streifte er von Juni bis Oktober alle 2 Wochen durch die Wälder im Südtessin und auf der italienischen Seite, kämpfte sich durchs Gestrüpp, schaute in jedes Astloch, durchsuchte Vorgärten und Friedhöfe, kontrollierte 280 von ihm aufgestellte Mückenfallen – je 140 in der Schweiz und in Italien, jeweils 70 davon in urbanem Gebiet. Er entnahm die Eier den simulierten Brutstätten und wertete insgesamt 230‘000 Eier im Labor aus.

«Ja, ein bisschen fanatisch muss man schon sein, um solch ein Forschungsprojekt durchzuführen», gibt der Biologe zu. Er ist in Tansania geboren, wo sein Vater für das Schweizerische Tropen und Public Health-Institut (Swiss TPH) tätig war. Schon immer ein Naturfreund, folgte Tobias schliesslich den Fussstapfen seines Vaters und arbeitet heute in Basel für dasselbe Institut.

Dramatische Situation in Italien

Bei Suters Doktorarbeit geht es um die Verbreitung der Tigermücke im grenznahen Raum zwischen Italien und der Schweiz: Während Italien in der Grenzregion zur Schweiz gegen die Ausbreitung der Mücke nichts unternimmt, laufen im Tessin seit 2003 aufwändige Forschungs-, Aufklärungs- und Bekämpfungsmassnahmen – mit Erfolg. «Es zeigte sich, dass das Problem in Italien signifikant grösser ist als im Tessin», stellt Tobias Suter fest. «Zumal die ursprünglich in südostasiatischen Wäldern beheimatete Tigermücke ihr Verhalten geändert hat und heute vor allem in urbanen Gebieten vorkommt. Die meisten potenziellen Brutstätten von Tigermücken befinden sich auf privaten Grundstücken, etwa in Regenwasserfässern, in Untersätzen von Blumentöpfen, in Vasen auf Friedhöfen». Die Botschaft im Kampf gegen die Tigermücke lautet deshalb: Nicht unnötig Wasser im Freien herumstehen lassen oder dieses wöchentlich erneuern. Denn die Tigermücke, die ihren deutschen Namen wegen der auffälligen hellen Streifen an Rücken und Beinen trägt, kann Trägerin gefährlicher Krankheiten sein.

Begünstigt wird dies durch die globale Erwärmung. Sie erleichtert es exotischen Erregern, die bisher kühlen Zonen Europas zu erobern. Die wichtigsten Überträger – Wissenschaftler sprechen von Vektoren – der exotischen Viren sind Mücken. Die Tigermücke wurde ursprünglich aus dem asiatischen Raum durch Transporte von Eiern mit Bambuspflanzen, Textilien und Autoreifen weltweit verbreitet bis nach Italien. Von dort wurden ausgewachsene Stechmücken, gefangen in Fahrzeugen, über die E35 ins Tessin eingeschleppt. Zwar haben Touristen oder der Fernverkehr schon immer Viren aus ihren Ursprungsländern auf alle Erdteile verteilt. Doch bislang war es den Mücken, die die Krankheiten theoretisch übertragen konnten, in der neuen Heimat schlicht zu kalt oder zu trocken um grössere Populationen zu bilden.

«Durch die steigenden Temperaturen werden längerfristig aber Bedingungen geschaffen, unter denen sich eingeschleppte Organismen länger halten werden», erklärt Basil Geber vom BAFU, das das Auftreten von krankheitsübertragenden, gebietsfremden Stechmückenarten überwacht. «Eine solche Überwachung ist wichtig, um bei Bedarf krankheitsübertragende Mücken gezielt bekämpfen und so die Ausbreitung von Krankheiten verhindern zu können. Erfahrungen aus dem Ausland zeigen, dass es besser ist, sich frühzeitig zu wappnen.» 2007 brachte ein Indien-Reisender, der vor Ort von einer Mücke gestochen worden war, den Chikungunya-Erreger nach Norditalien. In Ravenna wurde er dann von einer dort ansässigen Tigermücke gestochen. Der Erreger breitete sich in der Folge durch die lokale Tigermückenpopulation aus und wurde auf Hunderte von Personen übertragen – mit den typischen Symptomen wie hohes Fieber, heftige Gelenk- und Muskelschmerzen. 

Auch das Westnil-Virus könnte vom Klimawandel profitieren. «Es gab bereits Krankheitsfälle in Europa, etwa in Frankreich», sagt Basil Gerber von der Sektion Biotechnologie des BAFU. «In der Schweiz existieren bislang aber noch keine Nachweise, dass Krankheiten hier durch Mückenstiche übertragen worden wären», beschwichtigt er und warnt vor Hysterie: In der Nordschweiz werde die Buschmücke gern mit der Tigermücke verwechselt. Bei der Tigermücke seien aber das letzte Glied an den Hinterbeinchen und die Mundwerkzeuge weiss. Sie habe sich in der Nordschweiz noch nicht etablieren können. «Die Buschmücke gibt es hingegen im ganzen Mittelland. Wenn die Leute von ihr gestochen werden, denken sie im Extremfall gar, sie müssten möglicherweise sterben.» Ein Stich der Buschmücke sei zwar ebenso schmerzhaft wie der einer Tigermücke, aber bis dato wisse man von keinen von ihr ausgehenden Krankheitsübertragungen. Auch Tobias Suter warnt vor übertriebener Angst: «Die Leute schicken alles ein, was getigert ist und fliegt – sogar Hornissen», lacht er.

Monitoring auch in der Nordschweiz

Allerdings konnten bereits Eiablagen der Tigermücke nördlich des Gotthards beobachtet werden. Das Swiss TPH führt zusammen mit der Gruppo Lavoro Zanzare (GLZ) der Fachhochschule des Kantons Tessin seit 2013 eine nationale Überwachung der Tigermücke in der gesamten Schweiz durch. Da die Tigermücke sich innerhalb von Europa vor allem passiv über Verkehrswege ausbreitet, wurden an Autobahnraststätten, Flughäfen und den Rheinhäfen Mückenfallen aufgestellt und systematisch kontrolliert. Nebst den Eiablagen wurden jedoch weder ausgewachsene Exemplare gefangen, noch konnten weitere Eiablagen zeitnah am selben Ort gefunden werden. «Das deutet darauf hin, dass zwar einzelne Tigermücken als blinde Passagiere mit Autos oder Lastwagen verschleppt werden, sich bisher jedoch keine stabilen Mückenpopulationen etablieren konnten», meint Pie Müller, vom Swiss TPH, Leiter des nationalen Überwachungsprogramms. Das Monitoring wird zunächst bis 2016 entlang der Autobahnen, an den Flughäfen von Genf und Zürich sowie in den Basler Rheinhäfen durchgeführt. Derweil überwacht das Bundesamt für Gesundheit BAG fünf von Stechmücken übertragene Infektionskrankheiten: Chikungunya-Fieber, Dengue-Fieber, Gelbfieber, Malaria und West-Nil-Virus.

Vermehrt Hitzetote

Aber nicht nur Krankheitserreger werden dem Menschen auf einer erwärmten Erde zu schaffen machen. Hitzeperioden, von denen die Forscher annehmen, dass sie häufiger auftreten, stellen eine Gefahr dar. Obschon sich der Mensch an eine allmähliche Temperaturzunahme anpassen kann, halten es Mediziner für unwahrscheinlich, dass er sich auch an extreme Hitzeereignisse gewöhnt. Länger andauernde Hitzeperioden ohne nennenswerte Abkühlung in der Nacht (so genannte Tropennächte) können sich negativ auf die Gesundheit auswirken, Hitze schwächt die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit und kann zu Herz-Kreislaufproblemen führen. «Diverse Studien zeigen, dass extreme Hitzeperioden negative gesundheitliche Folgen haben», betont Damiano Urbinello. Im Hitzesommer 2003 starben in ganz Europa etwa 70‘000 Personen und in der Schweiz fast tausend Personen mehr (rund 7%) als in einem durchschnittlichen Sommer.

Hitzewellen können für Menschen aller Altersstufen eine Belastung sein. Am meisten gefährdet sind aber ältere und pflegebedürftige sowie chronisch kranke Personen. Im Tessin weiss man offenbar besser umzugehen mit der Hitze. «Anstrengungen vermeiden, den Körper kühlen, viel trinken und leicht essen wirken vorbeugend. Sorge um die Gesundheit älterer Menschen während Hitzetagen geht alle an. Alleinstehende, Betagte und pflegebedürftige Personen benötigen unsere Aufmerksamkeit.», weiss Damiano Urbinello.

Das BAG entwickelte in der Folge des Hitzesommers 2003 eine Informationskampagne zum Verhalten bei Hitze, um Angehörige, Pflegepersonal, Ärzteschaft und gefährdete Personen für die gesundheitlichen Risiken der Hitze und die entsprechende Vorsorge zu sensibilisieren. Viele Kantone haben die Empfehlungen übernommen. Die Kantone Genf und Tessin führten eigene Hitzewarnsysteme ein. Ziel ist, vor allem bei älteren Menschen negativen gesundheitlichen Auswirkungen vorzubeugen und dadurch eine höhere Sterblichkeit zu vermeiden. Zudem wollen die Behörden Notfalleinsätze und Hospitalisierungen – etwa wegen Flüssigkeitsmangel – reduzieren. Mittlerweile verfügen auch die Kantone Waadt, Neuenburg und Wallis über ähnliche Alarmdispositive und verstärkte Präventionsmassnahmen.

Im letzten Jahr hat das Swiss-TPH das Pilotprojekt zur Anpassung an den Klimawandel «Effekt von Hitzeperioden auf die Sterblichkeit und mögliche Adaptionsmassnahmen» lanciert: Für die ganze Schweiz und für verschiedene Regionen wird der Einfluss von Hitzeereignissen auf die Sterblichkeit untersucht. Dabei werden besonders stark betroffene Bevölkerungsgruppen sowie Wettermerkmale identifiziert, die für die Gesundheit relevant sind. «Bewertet werden auch die Massnahmen, die seit 2003 eingeleitet wurden, um die hitzebedingte Sterblichkeit zu reduzieren. Gesundheitsbehörden auf kommunaler, kantonaler und nationaler Ebene sollen dadurch die notwendigen Grundlagen und Informationen erhalten, um effiziente Präventionsmassnahmen ergreifen zu können», erklärt Projektleiter Martin Röösli.

Tessin besonders betroffen

Während zweier Jahre haben über 20 Forschungsgruppen aus der Schweiz unter der Leitung des Oeschger-Zentrums der Universität Bern am Bericht der «CH2014-Impacts»-Initiative gearbeitet. Unterstützt wurden sie vom BAFU und Meteo Schweiz. Das Ergebnis: Je nach Szenario könnte sich die Durchschnittstemperatur in der Schweiz bis Ende dieses Jahrhunderts um 0,9 bis 5,2 Grad erhöhen. Der Bericht zeigt grosse regionale Unterschiede bei den Klimafolgen auf. Besonders betroffen vom Klimawandel ist die Südschweiz, wo zum Beispiel die Zahl der Tropennächte stark ansteigen wird. Dort könnten Hitzephasen künftig bis zu zwei Monate dauern.

Eine weitere Folge des Klimawandels betrifft die Allergiker. Frühblüher wie Hasel und Erle werden bereits im Dezember blühen, auch die Gräser spriessen früher, und die stark allergieauslösende Pflanze Ambrosia, die sich hierzulande ausbreitet, wird die Pollensaison bis gegen Ende September verlängern, wenn die Pollenbelastung durch die einheimischen Pflanzen nur noch gering ist.
Hohe Ozonwerte wirken sich zusätzlich schädlich aus. «Mit einer höheren Ozonkonzentration werden die Atemwege und Bronchien mehr gereizt, wodurch speziell für Asthma- und COPD-Patienten das Risiko steigt", erklärt Denise Felber Dietrich von der Sektion Luftqualität des BAFU. Zwar seien die Schadstoffbelastung von Luft und Wasser in der Schweiz gesunken. Die Belastung mit Ozon und Stickoxiden liege aber weiterhin über den Grenzwerten. Vor allem im Tessin: Hier steigen die sommerlichen Ozonwerte höher als in anderen dicht besiedelten Regionen der Schweiz. Eine starke Besonnung, enge Täler und die Nähe zur Poebene mit ihren Industriezentren begünstigen die Ozonbildung.

Ozon ist ein aggressives Reizgas und kann aufgrund seiner geringen Wasserlöslichkeit tief in die Lungen eindringen. Die Folge sind Gewebeschäden, starke Reizwirkungen und Entzündungen im Atemwegbereich. Ozon ist hauptverantwortlich für die Wirkungen des Sommersmogs auf den Menschen. Denise Felber Dietrich: «Eine Studie im Tessin hat gezeigt, dass bei Kindern bei moderater Anstrengung im Freien messbare Lungenfunktionseinbussen auftraten. Bei empfindlichen Personen, die im Freien körperlich aktiv sind, können solche Einbussen an Tagen mit hoher Ozonbelastung bis gegen 30 Prozent betragen.»
Massnahmen gegen den Klimawandel sind also aus zahlreichen Gründen unabdingbar – allein schon, damit die Tessiner Sonnenstube nicht zum Krankenzimmer der Schweiz wird.

August 2015
Der Artikel ist sinngemäss auch im Umweltmagazion der Bafu erschienen

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