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Die Idee von der emotionalen Gleichgültigkeit

VON PETER SCHÖNAU
© Peter Schönau

Wir leben in einer Zeit der ständigen Reizüberflutung. Ich habe dagegen ein unfehlbares Rezept gefunden: Die emotionale Gleichgültigkeit.

Meine Philosophie, die ich einem erfundenen Protagonisten in den Mund lege, ist folgende: Ihm sind Kategorien wie Moral und Ethik fremd, er glaubt nur an sich selbst und seine Einzigartigkeit in einer individualisierten Gesellschaft, wo jeder an jedem vorbeigeht, ohne dass Wege sich kreuzen, wie auf einem Hotelflur.

Bezeichnend für ihn ist, wie er bestimmte im Allgemeinen hochgeschätzte menschliche Tugenden beurteilt. Zum Beispiel Verlässlichkeit: Ein abgegriffenes Wort. Abgenutzt wie ein alter Anzug mit glatt gescheuerten Ellbogen und ausgebeulten Knien, aus der Mode gekommen. Er hält sich nicht für verlässlich, jedenfalls nicht in der Definition, die ihm das Wörterbuch der Synonyme anbietet: charakterfest, glaubwürdig, zuverlässig. Von verlässlich zieht er einen Gedankenstrich zu anständig und schüttelt den Kopf.

Er hat festgestellt, dass die meisten Menschen, ihn eingeschlossen, sich immer dann anständig finden, wenn sie keinen Anlass haben, unanständig zu sein. Was ist er also, wenn er ein Fazit dieser charakterlichen Spurensuche zieht: "eine Art Chamäleon", flüstert er in den Wind, der die Blätter der Bäume durcheinander wirbelt. Trotzdem hält er sich für berechenbar, denn er trifft seine Entscheidungen nur in seinem eigenen Interesse. Ihm fällt dazu ein Zitat ein: "Nur oberflächliche Menschen haben tiefe Überzeugungen." Er hat vergessen, von wem es stammt, aber er würde es unterschreiben.

Heuchelei vor sich und den anderen ist für die meisten das Passepartout, mit dem sie sich durch das Leben schlängeln. Seine Theorie ist, dass sie ihr wahres Gesicht allenfalls auf einer einsamen Insel zeigen würden, wo es nicht einmal einen Spiegel gibt, der sie entlarvte, und niemand ihnen zusieht.

Wenn man sich in einem Rahmen bewegt, ist das Leben geordnet, es wird überschaubar. Das wollen die meisten Menschen doch: Ordnung und Überschaubarkeit. Das brauchen sie, um zufrieden zu sein. Zufriedenheit ist eine Droge. In kleinen Dosen genossen ist sie der Schlüssel zum Glück.

Er hat schon mehrmals ein neues Leben angefangen; doch jedes neue Leben beginnt dort, wo das alte aufgehört hat. Man fängt nicht bei Null wieder an, und der Ballast jahrzehntelanger Erinnerungen ist eine schwere Last. Selbst wenn wertvolle Erfahrungen zurückbleiben, die für einen Neuanfang von Nutzen sind. Hätte er die Wahl, würde er sie gegen den Verlust der Erinnerung eintauschen.

Gut oder Böse sind Kategorien, die er schon lange aus seinem Vokabular gestrichen hat. Das Leben ist eine Skala von Grautönen. Gut und Böse gehen häufig Hand in Hand.

Wenn Sie dieser Philosophie folgen, werden Sie nie sich selbst, sondern höchstens Ihren Mitmenschen zur Last fallen.

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