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 Ärzte-Sterbehilfe:
Der Hausarzt blutet aus

 

VON VERA BUELLER

 Das Proletariat von morgen werden die Ärzte sein, prophezeit Peter Mattmann. Der ehemalige Poch-Politiker und homöopathische Hausarzt aus Luzern spricht von einer Proletarisierung des Berufes Arzt mit entsprechenden Nivellierung des Lohns nach unten. "Es wird nur noch Discountärzte geben, die sich wie Angestellte benehmen und pünktlich Feierabend machen, und daneben Leibärzte für Gutbetuchte." Erreichbarkeit rund um die Uhr und eine persönliche Beziehung des Arztes zum Patienten würden nicht mehr zählen, beziehungsweise könne der einfache Patient nicht mehr zahlen.

Der Arzt als Arbeiter, der froh sein kann, dass er überhaupt noch Arbeit hat? Was die Zukunft des Hausarztes betrifft, teilen viele Kollegen die Meinung Mattmanns - auch wenn sie auf die marxistische Terminologie verzichten und betriebswirtschaftlich argumentieren: Aufwand und Ertrag stimmten nicht mehr. Die langen Arbeitszeiten, die Flut administrativer Arbeiten und die ständigen Anfeindungen in den Medien "machen den Beruf nicht mehr attraktiv", räumt beispielsweise der Internist und Mitglied des Hausarztvereins Luzern-Reuss Werner Messerli ein. Und Hans-Heinrich Brunner, als Präsident der Ärzteverbindung FMH oberster Schweizer Mediziner, konstatiert "dass die Bedeutung des Hausarztes als selbst agierender Mediziner abnimmt". Gleichzeitig sieht er neue Aufgaben für den braven Hausarzt: Seine Rolle werde künftig die eines Managers sein, der im grossen Netzwerk Gesundheitswesen die Angebote der Spezialisten organisiere und den Patienten durch den Medizin-Dschungel führe. Dazu gehöre neu auch die Verantwortung für Ressourcen. Bisher sei das Verständnis für ökonomische Prozesse bei der Ärzteschaft gering gewesen.top

Vernachlässigte Hausarzt-Ausbildung

Schöne Aussichten für die angehenden Hausärzte, die das Medizinstudium ergriffen haben, um dereinst kranken Menschen und nicht einem kranken Gesundheitssystem zu helfen. Dabei sind sie bereits während ihres Studiums unmissverständlich auf den Wandel aufmerksam gemacht worden: Die Schweizer Universitäten setzen auf Spezialisierung und vernachlässigen systematisch die Hausarztausbildung. Das monieren schon seit Jahren Dozenten der "Fakultären Instanzen für Allgemeinmedizin" (FIAM). Jüngstes Beispiel ist ein Rücktrittsschreiben aus dem Kollegium der FIAM der Uni Bern: "Es gibt Anzeichen, dass immer weniger Medizinstudenten und -studentinnen sich nach ihrer Ausbildung in die Grundversorgung begeben und wir in naher Zukunft Mühe haben werden, Hausarztpraxen mit bestens ausgebildeten Ärzten oder Ärztinnen zu besetzen." Die Studenten würden heute von Spezialgebiet zu Spezialgebiet geschleust und ihr Horizont werde immer enger. "Und man behilft sich zuletzt mit immer mehr Vorschlägen zu weiteren Fachkonsilien, falls ein Problem ausserhalb des eigenen Gebietes auftaucht. Diese daraus resultierende Medizin ist nicht mehr bezahlbar. Wir müssen unsere Studenten und Assistenten wieder lehren, das Wesentliche zu sehen und den Mut zu haben, eine diagnostische oder therapeutische Handlung auch einmal zu unterlassen." Das Fazit des Dozenten, der bezeichnenderweise anonym bleiben will: "Wir Hausärzte bluten aus". Mit der von ihm kritisierten Ausbildungsstrategie und mit der vom Bund eben kommunizierten Botschaft "bloss nicht Arzt werden!" produziert man absehbare Spätfolgen: Engpässe in der medizinischen Grundversorgung.

Die von den Universitäten geförderte Spezialisierung sowie der hohe Stellenwert der Technik innerhalb der Schulmedizin führen nicht nur zu weiteren Kostensteigerungen im Gesundheitswesen, sondern vor allem auch zur Entpersönlichung des Verhältnisses zwischen Arzt und Patient. Dabei verlangt der Markt das Gegenteil, wie nicht zuletzt die boomende Branche der Scharlatane und New Age-Heiler beweist. Gefragt ist ein Systemwechsel, weg von der Materie, "hin zur Software, zum geistig-psychologischen", wie Peter Mattmann sich ausdrückt. Er nennt es "personale Intelligenz", die gefragt wäre. Sein Befund: Es braucht nicht weniger, sondern mehr Ärzte. top

Mangel an personaler Intelligenz

In der real existierenden Hausarztpraxis von heute fehlt es schon aus zeitlichen Gründen an "personaler Intelligenz". Der gute Onkel Doktor befasst sich statt mit Patientengesprächen mit Verwaltung, Korrespondenz, Richtlinien, ständigen Reibereien mit den Krankenkassen. Werner Messerli sitzt täglich etwa 2 Stunden vor dem PC. Für den Patienten und die Patientin ist er noch während 8 bis 10 Stunden zu haben - kommt die Weiterbildung hinzu, was summa summarum eine Wochenarbeitszeit von rund 70 Stunden ergibt.

Kleinkrämereien der Krankenkassen gehören zum Alltag. Da gibt es ein endloses Gezerre wegen vier oder auch weniger Franken. Und die Indikation limitierter Medikamente (etwa "Xenical" gegen Fettleibigkeit oder "Viagra" gegen Unvermögen in den Lenden) muss aufwändig und immer wieder neu begründet werden - längst nicht immer mit Erfolg. Gegen solche Frustrationen sind die Ärzte schon immmun. Oder sie sorgen nur temporär für Schmerzen. Schlimmer erwischt es sie, wenn sie Sozialhilfeempfänger oder IV-Bezüger betreuen, die ihre Arztrechnung nicht bezahlen, das Geld aber trotzdem von der Krankenkasse beziehen. Werner Messerli hat so schon Tausende von Franken verloren "und es gibt immer noch Kassen, wie etwa die Helsana, die sich weigern, eine Zession - notabene mit Einverständnis des Patienten - zur direkten Abrechnungsmöglichkeit auszustellen".

Dabei nimmt das reale Einkommen der meisten Ärzte ohnehin schon ab. Bei den Allgemeinpraktikern sind es in den letzten 30 Jahren rund 40 Prozent. Die neuesten Zahlen einer von der FMH in Auftrag gegebenen Studie belegen erstmals gar einen nominalen Verlust des Jahreseinkommens von einem Prozent auf 186'709 Franken. Beim Internisten sind es noch 208'929 Franken. top

Sich auf Kunstfehler spezialisieren

Nicht nur das Pekuniäre macht zu schaffen. Viele Ärzte leiden besonders unter der Diskrepanz zwischen der Realität und dem Traumberuf Arzt, die sich speziell in der Erscheinungsform Patientenorganisation oder Justiz manifestiert. Da wurde doch vom Bundesgericht unlängst ein Arzt verurteilt, weil er eine Patientin zu wenig fundiert über mögliche Kontraindikationen eines verabreichten HIV-Medikaments informiert hatte. Die Patientin kaufte sich in der Apotheke noch eine andere Arznei, die mit dem HIV-Medi unverträglich war - was zum Gefässverschluss und einer Amputation führte. Messerli dazu lakonisch: "Früher empfahl man intelligenten Jugendlichen, Medizin zu studieren. Heute sollte es Jus sein - um sich dann auf Kunstfehler von Ärzten zu spezialisieren".

Der kritische und mündige Patient - von den Ärzten immer wieder propagiert und in der Praxis heimlich verflucht - will seine Krankheit längst nicht mehr einfach an den Arzt delegieren. Er will über Diagnosen und mögliche Therapien mitzudiskutieren und mitentscheiden. Im Zweiminutenrhythmus lässt sich niemand mehr abfertigen. Im Gegenteil: Medizinische Leistungen wollen wie Lebensmittel konsumiert , manchmal gar genossen werden - schliesslich bezahlt man dafür teure Krankenkassenprämien. In der Praxis kann dies dann bedeuten, dass die Kundin auf ihr Recht auf zwei paar Stützstrümpfe pro Jahr pocht und der Mediziner gefälligst ein entsprechendes Rezept ausstellen soll.

Keine Frage, sie haben es nicht leicht, die Ärzte. Wenigstens bleibt die Wertschätzung, die ein Arzt in der Gesellschaft geniest: Sie müssen lange studieren und Entbehrungen wie endlose Schichten im Spital bei anfänglich schlechter Bezahlung auf sich nehmen. Doch dann können sie Leben retten und mit Güte und Weisheit um unsere Gesundheit besorgt sein. Ein Bild, das vor allem durch Fernsehserien geprägt wurde. Das Bild vom mutigen, uneigennützig handelnden und selbstlosen Lebensretter und Helfer wurde und wird unaufhörlich in der Schwarzwaldklinik, in der Praxis Bülowbogen, beim Landarzt oder mit den fliegenden Ärzten in aller Freundschaft gezeichnet. Auch Meinungsforscher wollen wissen, dass der Arzt immer noch zu den prestigeträchtigsten Berufen gehört: Zusammen mit Professoren, Richtern und Anwälten haben sie Einfluss auf die Gesellschaft, verdienen nicht schlecht und üben einen krisensicheren Job aus. Doch ihr Image bröckelt. Meldungen wie die vom Arzt, der ständig das falsche Bein amputiert, die Laborabrechnung fälscht, mit Krankengeschichten handelt, sich von der Pharmaindustrie bestechen lässt, bei einer Knieoperation die Vagina gleich mituntersucht oder die Patientin auf dem Spannteppich vergewaltigt, häufen sich. Hans-Heinrich Brunner versucht indes zu beschwichtigen, zu erklären, nicht aber zu rechtfertigen: Bei 28'000 Ärzten kann man nicht erwarten, dass alle einen Heiligenschein haben.top

Dem Praxisautismus verfallen

Die Ärzte selber leiden am meisten unter den ständigen Anfeindungen. Allein schon die Feststellung, dass der Halbgott in Weiss auch nur ein Mensch ist, empfinden viele Ärzte und Ärztinnen bereits als sozialen Abstieg. Wer eine Einzelpraxis führt, droht dem Praxisautismus zu verfallen. Gemeinschaftspraxen drängen sich auch deshalb - und nicht nur wegen der kostengünstigeren Infrastruktur - auf.

Von einem ähnlichen Image-Wandel sind auch andere Berufe wie Lehrer, Manager oder Pfarrer betroffen. Die meisten Interessensgruppen haben allerdings rechtzeitig erkannt, dass sie eine professionelle Kommunikations- und Medienpolitik zur Imageverbesserung und Durchsetzung ihrer Interessen betreiben müssen. Im Gesundheitsbereich waren es die Krankenkassen, die Spitäler und einzelne Gesundheitspolitiker, die aktive mediale Lobbyarbeit betrieben haben - im Unterschied zur Ärzteschaft, die den Anschluss schlicht verpennt hat. Viel hätten sie von den Bauern lernen können: Gut gejammert ist halb gebauert.

Dass kollektives Jammern eines der effizientesten Mittel bei der Durchsetzung von Interessen ist, haben die Ärzte erst jetzt entdeckt, da die Zeichen auf Sturm stehen. Offenbar sind die Mediziner vom Ende der Schonzeit in den Medien genauso überrascht worden wie von den Veränderungen der ökonomischen Rahmenbedingungen ihres Arbeitsumfeldes. Lange Zeit war Geld im Gesundheitswesen kein Thema, fast alles was technisch machbar war, konnte auch finanziert werden. Jetzt wird um jede Viagra-Tablette gekämpft. Ärzte und Ärztinnen haben sich zudem stets als Einzelkämpfer und freie Privatunternehmer verstanden. Sie müssen nun schmerzhaft zur Kenntnis nehmen, dass sie nur als gesamte Berufsgruppe eine Chance haben, ihre Anliegen durchzubringen. top

Hüst und Hot-Politik

Ausserdem sind die Mediziner Primadonnen, wie zuletzt die Verhandlungen um den neuen Arzttarif Tarmed krass vor Augen geführt hat. Für die Ärztevereinigung FMH ist es da nicht leicht, einen Konsens für ein gezieltes Lobbying zu finden. Entsprechend flau fallen die Stellungnahmen aus: Sind die Mediziner nun für - was aus Eigennutz sinnvoll wäre - oder gegen den Ärztestopp - was das Selbstverständnis als Standesorganisation verlangt? Soll der Vertragszwang zwischen Kasse und Arzt aufgehoben werden? Wird ein Alterslimit für den Arztberuf begrüsst oder verdammt? Und die Politik macht es mit ihrem Hüst und Hott - mal Planwirtschaft, die Ärztedichte also von Staates wegen regulieren, dann wieder freier Markt beim Vertragszwang - nicht eben leichter.

Und schon machen die Weisskittel ihren nächsten Kommunikationsfehler: Sie schauen zu, wie der Krankenkassendachverband Santésuisse die Gunst der Stunde nutzt und Mehrkosten in hundertfacher Millionenhöhe reklamieren, die durch den Ärztezulassungsstopp entstünden. Vorausgesetzt, sämtliche 1629 in letzter Minute eingereichten Gesuche würden bewilligt und die entsprechende Praxis dann auch eröffnet. Dabei ist allen Beteiligten klar, dass ein grosser Teil der Gesuche auf Vorrat, in mehreren Kantonen doppelt und dreifach eingereicht wurde. Und wenn die behördliche Bewilligung zur Praxiseröffnung vorliegt, muss erst noch die höchste Hürde, der eigentliche, seit längerem funktionierende Zulassungsstopp überwunden werden: Die Banken.

Bei der FMH treffen laufend Anfragen von Banken ein, die sich nach dem Durchschnittseinkommen dieses oder jenes Spezialisten in einer bestimmten Region erkundigen. Vor zehn Jahren genügte es, Arzt zu sein, um einen Kredit zu bekommen. Heute braucht es einen umfassenden Businessplan mit Standortanalyse, Finanz-, Steuer- und Versicherungsplanung sowie Risikoabschätzung - und es kommt immer wieder vor, dass ein Gesuch abgelehnt wird. Der Arzt gehört heute wegen der Überversorgung für die Banken zum schlechten Risiko. Und bis die Rechnung einer neu eröffneten Praxis einigermassen im Lot ist, dauert es drei bis vier Jahre.top

Bedürfnisklausel der Banken

Nur wenn die Krankenversicherer selber ein HMO-Zentrum eröffnen, versagt die Bedürfnisklausel der Banken. Was Wunder, haben mit der Einführung des neuen Krankenversicherungsgesetzes in Ballungszentren wie der Stadt Luzern vor allem die neuen HMO-Praxen der Kassen zur Mengenausweitung beigetragen.

All dies weiss freilich auch Santésuisse. Bei ihrem Protestgeheul gegen den Ärztestopp geht es denn auch nicht wirklich um die bereits eingereichten Gesuche, sondern um die nächste Konfliktrunde: Die Aufhebung des Kontrahierungszwang, den Traum jedes Krankenkassenmanagers nach eigenem Gutdünken ihnen nicht genehme Ärzte von den Wohltaten seiner Kasse ausschliessen zu können. Mit Folgen für die Patienten allerdings, die keine freie Arztwahl mehr haben. Die Vielfalt an medizinischen Angeboten droht zudem verloren zu gehen, sobald alles über einen Leisten, nach Norm und möglichst billig geschlagen wird.

In der Jubiläumsfestschrift zum 175jährigen Bestehen der Ärztegesellschaft des Kantons Solothurn hat sich der verstorbene Christoph Binswanger seine eigenen Gedanken über die schöne neue Medizinwelt gemacht: "Der neue Arzt, dessen Berufsbild sich völlig verändert hat, arbeitet vor allem am PC, seine Kommunikationsfähigkeiten sind beschränkt." Internet- und Chips würden Standard. "Ähnlich einer Kreditkarte wird jedem Neugeborenen ein Chip eingepflanzt, auf dem das Guthaben an medizinischen Leistungen gespeichert ist..."

Juli 2002

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