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 Gerichtsgutachten:
Über keinen Zweifel erhaben

 

VON VERA BUELLER

Den 30. April 2008 wird Dave B.* nie vergessen: «In wenigen Sekunden wurde alles zerstört, was ich mir in zwei Jahren erarbeitet hatte», sagt der 24jährige. Er befand sich damals im Massnahmenvollzugszentrum für junge Erwachsene im zürcherischen Uitikon (MZU), weil er zahlreiche bewaffnete Raubüberfälle verübt hatte; ohne allerdings jemanden zu verletzen. Im MZU wandelte sich Dave B. zu einem neuen Menschen: Er begann eine Schreinerlehre und benahm sich derart vorbildlich, dass er schon bald an jedem Wochenende nach Hause und während der Woche in den Ausgang durfte – anderthalb Jahre lang.

Als er an jenem 30. April ins Büro des Abteilungsleiters gerufen wurde, ahnte er also nichts Böses. «Im Büro stürzten sich dann zwei Beamte auf mich, stellten mich an die Wand, legten mir Handschellen an und überführten mich in Sicherheitshaft ins Gefängnis nach Solothurn.» Was war geschehen? Die Psychiater des MZU hatten auf Wunsch der Vollzugsbehörde einen Zwischenbericht verfasst, der Dave B. plötzlich als flucht- und gemeingefährlich einstufte.

Nun drohte ihm die lebenslange Verwahrung. Zwar wurde er nach Monaten der Ungewissheit in U-Haft «nur» zu knapp sechs Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Das Urteil ist allerdings noch nicht rechtskräftig. Und wenn es nach dem Willen der Staatsanwältin gegangen wäre, hätte man ihn auf unabsehbare Zeit in eine psychiatrische Anstalt weggesperrt. Denn psychiatrische Gutachten spielen heutzutage eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, die Gefährlichkeit und Rückfallgefahr eines Täters zu beurteilen. Die Justiz übernehmt meist die Einschätzung des so genannten Forensikers, der damit zum Richter in Weiss wird. Für Oberrichterin Marianne Heer ist das problematisch: «Die Gefährlichkeitsprognose ist nicht lediglich eine psychiatrische Angelegenheit. Es handelt sich ebenso sehr um eine rechtliche Frage – die stark gesellschaftpolitisch geprägt ist.»

Eine heikle Machtverschiebung

Eine heikle Machtverlagerung, zumal es beim Ausloten menschlicher Grenzbereiche oft auch bei den Psychiatern nur allzu menschlich zu geht, wie Rudolf I. erleben musste. Vor sechs Jahren befand er sich wegen Depressionen in psychiatrischer Behandlung. Eines Tages versetzte ihn der Psychiater mit seinen intimen Fragen derart in Rage, dass er ausrastete und den Arzt leicht verletzte – was zu einer Anklage wegen «versuchter vorsätzlicher Tötung» führte. Wahrscheinlich wäre der unbescholtene junge Mann mit einer bedingten Strafe davon gekommen. Doch vor Gericht behauptete Rudolf I., er könne sich an nichts erinnern. Dieser «Trick» sei ihm eingefallen,  «weil ich mal gehört hatte, dass man sicher nicht ins Gefängnis kommt, wenn man sich nicht mehr erinnern kann.» Statt ins Gefängnis steckte man ihn nun aber als Geisteskranker in die geschlossene Psychiatrie der Universitätsklinik Basel (PUK). Ein Gerichtsgutachten stempelte ihn wegen dieser «Erinnerungslücke» als schizophren ab.

Während zwei Jahren wurde Rudolf I. in der Anstalt mit Medikamenten «behandelt». So lange, bis es seiner Anwältin Sandra Sutter-Jeker gelang, mit einem privat in Auftrag gegebenen Gutachten die Diagnose zu widerlegen: Gutachter Piet Westdijk kritisierte die erste Expertisen als «unwissenschaftlich, forciert und von den Testresultaten her völlig aus der Luft gegriffen». Rudolf I. wurden daraufhin in die Freiheit entlassen – «unter Warnrufen der PUK», wie seine Anwältin sagt. Vor wenigen Wochen hat er seine Abschlussprüfung als Detailhandelsfachmann mit einem Notendurchschnitt von 5,1 bestanden und führt ein völlig normales Leben.

Mord am Zollikerberg hat alles verändert

Dass ein Täter heute eher psychiatrisch weggesperrt als mit einer Freiheitsstrafe «normal» bestraft wird, hat seinen Grund: Seit der Mörder Erich Hauert 1993 aufgrund eines Gutachtens in den Hafturlaub entlassen wurde und am Zollikerberg eine Pfadfinderin umbrachte, stehen die Gerichtspsychiater unter Druck. Also verfasst der Forensiker ein Gutachten, das ihm später nicht von den Medien um die Ohren gehauen wird, und schätzt die Risiken eher zu hoch ein.  «Ob er damit falsch liegt, lässt sich nicht verifizieren – der Täter sitzt ja im Gefängnis», sagt der Zürcher Strafverteidiger Matthias Brunner. Man kann nur erahnen, dass da etwas nicht stimmt, denn die Zahl der Verwahrten hat seit dem Mord um das Zweieinhalbfache zugenommen. Und Brunner präzisiert die Vermutung: «In der Branche unbestritten ist mittlerweile die Erkenntnis, dass zwei von drei Tätern zu Unrecht verwahrt sind». Im Klartext: In der Schweiz sitzen derzeit rund 150 Personen «irrtümlich» in Verwahrung.

Der Psychiater sei heute nur mehr «der Systemvollstrecker, der sich an den Delinquenten heranpirscht und die Gemeingefährlichkeit ortet»,  folgert denn auch der Justizkritiker und Rechtsanwalt Peter Zihlmann – und erinnert sich an die Zeit vor dem Hauert-Mord: «Früher waren wir Strafverteidiger froh über Gerichtsgutachter, die dem Täter eine verminderte Zurechnungsfähigkeit attestierten. Das wirkte strafmindernd.» Heute müsse er  warnen: «Bloss nicht in die Fänge der Psychiatrie geraten – das endet nie.» Heute wirkt sich also eine verminderte Zurechnungsfähigkeit praktisch strafverschärfend aus.

Tödliche Inquisition

Wie im Fall der Rita K.*: Sie glaubte, dass ihr Mann sie und ihren Sohn sukzessive vergiften wollte.  Eine Haaranlayse beim toxikologischen Institut in Basel mit erhöhten Werten für Thallium (Rattengift) und Lithium stützte ihren Verdacht. Am Abend des 2. April 1996 versuchte die damals knapp Vierzigjährige ihren Mann zu einem Geständnis zu zwingen. Sie betäubten ihn mit Schlaftabletten im Currygeschnetzelten, fesselten ihn dann ans Bett, schalteten eine Videokamera ein und begannen mit dem Verhör  – ohne die gewünschte Aussage zu bekommen. Schliesslich drückte sie ihm mehrmals ein Kissen auf den Kopf, «um seine Beschimpfungen und Drohungen nicht mehr zu hören», sagt sie. Die Inquisition endete tödlich.

Das Gericht hat Rita K. wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit nicht  bestraft,  jedoch für unbestimmte Zeit verwahrt. Seit Jahren versucht sie zu beweisen, dass sie geistig normal ist: «Ich bestreite gar nicht, dass ich mich aufgrund der jahrelangen körperlichen und seelischen Misshandlungen und Drohungen durch meinen Mann in einem schweren, psychischen Ausnahmezustand befunden habe. Aber das ist vorbei und ich habe keine Wahnkrankheit mehr.»

Schon fünf Gutachter haben versucht,  die Persönlichkeit der Rita K. zu enträtseln. Der erste stufte sie als nicht gemeingefährlich ein.  Der zweite wurde vom Gericht nach Abschluss des Hauptverfahrens aufgeboten, was Rita K. als «Rechtsmissbrauch» taxiert, «weil es kein faires Verfahren war». Nun hiess es nämlich, sie sei gemeingefährlich. Das dritte Gutachten kam wieder zum Schluss «nicht gemeingefährlich», das vierte ortete eine «mittelgradige Gefährlichkeit» und das fünfte – erstellt vom renommierten Gutachter Martin Kiesewetter – bestätigte weder Gemeingefährlichkeit, noch schwere Persönlichkeitsstörung. Die Verwahrungs ei aufzuheben und Rita K. in einem betreuten Wohnheim mit sozialtherapeutischer Stütze unterzubringen. Doch sie sitzt noch immer im Gefängnis Hindelbank. Es ergeht es ihr dort wie fast allen Verwahrten: Der Richter hat zwar eine stationäre psychiatrische Behandlung angeordnet, aber die Behörden vollziehen dies am falschen Ort: in der geschlossenen Strafanstalt.

Kastration nach nur 5-minütigem Gespräch

Auch das Denken des Sexualstraftäters Markus W.* wurde schon von vielen Psychiatern seziert. Als von der als äusserst streng geltenden Innerschweizer Fachkommission «Gemeingefährliche Straftäter» endlich die schrittweise Freilassung befürwortet wurde, riefen die Luzerner Vollzugsbehörden in letzter Minute einen Hardliner des Forensischen Psychiatrischen Dienstes des Kantons Bern  auf den Plan: Oberarzt Ralph Aschanden empfahl nach einem einzigen, nur fünf Minuten dauernden Gespräch, in seinem «Therapiebericht» die chemische Kastration des Probanden («Beobachter» 3/2008).

Aschwanden ist ein überzeugter Verfechter der Kastrationstherapie: «Der Sexualstraftäter –„Mann“ – ist dann nur noch „Mensch“  ohne aggressives männliches Paarungsverhalten.» Deutlich wird beim Fall Markus W., dass die Strafvollzugsbehörden ganz genau wissen, an wen sie sich wenden müssen, um ein gewünschtes Ergebnis zu bekommen – geprägt von der Angst vor gewissen Medienkampagnen, sobald ein ehemaliger Vergewaltiger raus gelassen wird: «Und Gutachter, die Karriere machen wollen, dienen sich den Behörden an», meint Peter Zihlmann und stellt damit die Unabhängigkeit der Forensiker in Frage.

Wes‘ Brot ich ess, des Lied ich sing? «Ja, die Gefahr besteht. Vor allem bei privat praktizierenden Psychiatern, die auf Aufträge durch die Gerichte, Strafverfolgungsbehörden oder Anwälte angewiesen sind», räumt Volker Dittmann, leitender Arzt der forensischen Abteilung der Universitätsklinik Basel, ein. Immerhin kostet ein Gutachten schnell einmal 15‘000 Franken. Und als Folge des neuen Strafrechts, das die Forensik ins Zentrum der Justiz gerückt hat, boomt das Business. «Wer es aber seriös macht, für den bedeutet es viel Aufwand.» Und Dittmann verweist auf die geltenden Standards. 

Sie wurden als Folge eines Vorfalls in Basel erarbeitet: Ein Gutachter hatte die Angaben eines Täters ungeprüft übernommen. Er habe eine unauffällige Kindheit gehabt und sei noch nie in psychiatrischer Behandlung gewesen, hatte dieser behauptet. «Das Gegenteil war der Fall: Vater Säufer, Mutter Dirne, häusliche Gewalt war an der Tagesordnung und so weiter», erinnert sich der Basler Strafrechtprofessor Peter Aebersold. Mit seiner Dissertation durchleuchtete er schon 1970 die Qualität forensischer Gutachten: «Verglichen mit damals, ist natürlich eine bedeutende Verbesserung festzustellen», meint der heute 65jährige. Dazu hätten die Standards wesentlich beigetragen.

Nur formale Anforderungen verbessert

Anwalt Matthias Brunner lässt dies allerdings nur bedingt gelten: «Primär wurden mit den Standards die formalen Anforderungen an Gutachten gehoben.» Bekanntes werde nun nochmals ausführlich dargelegt. Der Umfang eines Gutachtens nehme dadurch zu. «Die Substanz wird damit jedoch nicht besser.» Er vermisse immer wieder eine konkrete Analyse der Risikobereiche – wann ein Täter unter welchen Umständen wie reagieren könnte. «Stattdessen finde ich immer mehr vom Computer berechnete Gefährlichkeits-Scores.  Wenn der Computer an die Stelle des Psychiaters tritt, führt das zu fatalen Simplifizierungen.»

Bei den Scores handelt es sich meist um Fragebögen mit einer Punkteskala. Weltweit durchgesetzt hat sich die Psychopathie-Checkliste nach R.D. Hare, die eine Person mit 20 Merkmalen auf «übersteigertes Selbstwertgefühl», «pathologisches Lügen» oder «oberflächlichen Charme» hin abklopft. Wer am Schluss auf mehr als 30 Punkte kommt, gilt als Psychopath. Die Crux dabei: Es entscheiden äusserst subjektive Einschätzungen über die Bewertung. So gaben die  vier Psychiater, die Dave B. vom Schreibtisch aus begutachteten und teils gar nicht kannten, einen (Straf-)Punkt für seinen angeblich oberflächlichen Charme. Und seine «Lust am Gruppen führen» – was bei jedem Pfadfinder, Offizier oder Manager ein Vorteil wäre – wurden ihm als «manipulatives Verhalten» angelastet. Am Schluss kam Dave B. auf 31 Punkte. Fazit: Psychopath.

Bundesgericht weist PC in die Schranken

Das Bundesgericht hat hinter solche Punktebewertung ein grosses Fragezeichen gesetzt: Ein Sexualstraftäter hatte sich dagegen gewehrt, dass ihm die unbegleiteten Urlaube gestrichen worden waren. Für das oberste Gericht war dieser Widerruf willkürlich, weil sich das Amt für Justizvollzug ausschliesslich auf das standardisierte Computerprogramm «Fotres» abgestützt und auf eine individuelle Begutachtung verzichtet hatte.

«Fotres» ist das Werk von Frank Urbaniok, Leiter des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes (PPD) des Zürcher Amtes für Justizvollzug und wurde vom Pfeffersprayhersteller Piexon mit gesponsert. Die Software verpasst einem Probanden aufgrund von 700 Kriterien einen Gefährlichkeitsquotienten wie einen Body-Mass-Index – was der Zürcher Psychiater Mario Gmür als «pseudowissenschaftliches prophetisches Getue» bezeichnet. «Fotres beeindruckt durch die grosse Menge an Merkmalen und erweckt dadurch den irreführenden Eindruck, es handle sich um ein Prognoseinstrument von hoher Treffsicherheit.»

Trotzdem sind viele Gutachter und Wissenschafter überzeugt davon. Unbestritten ist indes, dass «Fotres» aus einem schlechten noch lange keinen guten Gutachter macht. Ein Versuch, deren Fähigkeiten zu heben, wurde nun mit der Zertifizierung anerkannter Gerichtsgutachter durch die Gesellschaft für forensische Psychiatrie gestartet. Die Aufnahme-, Aus- und Weiterbildungskriterien wurden international abgeglichen. 22 Deutschschweizer und 12 Westschweizer dürfen den Titel bereits tragen. Sie mussten, weil sie die Rolle der Pioniere einnehmen und die Lehrmeister künftiger Anwärter sind, weder Ausbildung noch Prüfung absolvieren.
Ob jeder und jeder von ihnen nun über alle Zweifel erhaben ist, sei dahingestellt. So oder so gibt es schlicht zu wenig gute Gutachter – und die Guten sind hoffnungslos überlastet. «Die Rechnung ist einfach», sagt Volker Dittmann. In der Schweiz würden pro Jahr mehrere Tausend Gutachten anfallen, pro Gutachten brauche es mindestens eine Woche Arbeit. Dittmann weiss deshalb: «Ein grosser Teil der Gutachten wird nicht von qualifizierten Spezialisten erstellt.»

*Name der Redaktion bekannt

Dezember 2008

Website:
Zertifizierung: Anforderungen, Aus- und Weiterbildung www.swissforensic.ch

 

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