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Kurt H. Illi Tessin:
«Nur Dimitri sorgt noch für Nachwuchs»

 

VON VERA BUELLER

Mittags in Corippo. Vom Campanile stören scheu die Glocken die Stille. Der Dorfbrunnen plätschert. Ein paar Wanderer umkreisen die kleinen Häuser aus rohem Stein. Eine alte Frau sitzt an die Hausmauer gelehnt in ihrem winzigen Gärtchen und saugt die Sonne ein – genauso wie zwei Eidechsen auf einer der zahlreichen Trockenmauern. Es riecht nach rauchenden Kaminen.

Steile Treppen und Gassen führen durch das verwinkelte Dorf. Alles ist steil. Derart steil, dass für den Friedhof am Ortseingang von Corippo eine Terrasse angelegt werden musste, weil es nirgendswo genügend ebene Flächen gibt. Hier müsse man, wird im übrigen Tessin gewitzelt, den Hühnern Taschentücher ums Hinterteil wickeln, damit die Eier nicht hinunterrollten. Eng ist es obendrein. Die steilgiebeligen Häuser mit ihren steinernen Dächern kauern aneinander, Dachecken stossen an gegenüberliegende Mauern, von Haustür zu Haustür kann man sich fast die Hand geben. Die Gassen dazwischen geben eine Ahnung von der Enge der Gemeinschaft in Corippo im Verzascatal.

Eine Gemeinschaft, deren Zukunft ungewiss ist: Keine Arbeit vor Ort, die Jungen sind längst weggezogen. Und schon lange hat das Dorf keine Geburten mehr erlebt. Der Benjamin unter den Bewohnern ist 52 Jahre alt: Claudio Scettrini, der Gemeindepräsident, der Sindaco von Corippo. Nur Dimitri sorgt in der kleinsten politischen Gemeinde der Schweiz noch für Nachwuchs: Anderthalb Monate alt sind seine Fünflinge. Sie leben im Haus von Gabriella Scettrini, der Mutter des Sindaco. Dort sind sie überall: im Brotkorb, inmitten von Zeitungen und Briefen auf dem Tisch, auf dem Schrank, unter Decken und Kissen, zwischen den Füssen der 79jährigen Signora. «Ach, sie machen einfach, was sie wollen», ächzt Gabriella Scettrini, während sie erfolglos versucht, den Katzenbabys das Beklettern des Esstisches abzugewöhnen. «Wie mein Sohn», bemerkt sie lachend. «Auch er kommt und geht wie er will.» Was Wunder bei all seinen Aufgaben: Als Sindaco «managt» er die Gemeinde; auf der Alp betreut er 40 Schafe, unterhält die Acquadotta, die Kanalisation und die Stromversorgung, kümmert sich als Förster um den Wald oder ist in der Bergrettung im Einsatz. Einziger Ruhepol in seinem Leben ist das Rustico seiner Mutter. Sie umsorgt alle: den Kater Dimitri, die Katzenmutter mit ihren Kleinen, die Kirchengemeinde, vor allem aber den Sohn. Er hat zwar eine eigene Wohnung in Corippo, doch der Alleinstehende lässt sich gern von seiner Mutter bekochen.

11 Einwohner – fast alle pensioniert und allein stehend

Alleinstehend sind in Corippo fast alle der noch 11 Einwohner. Unter ihnen gibt es nur ein Ehepaar. Und alle Corippesi befinden sich, mit Ausnahme des Sindaco, im Pensionsalter. «Ja, es gibt zahlreiche Gemeinden in den Seitentälern, in denen der Anteil der jungen Einwohner sehr tief ist und weiter sinkt. Das hängt mit dem Mangel an Arbeitsplätzen und den heutigen Komfortansprüchen zusammen», meint Sindaco Claudio Scettrini auf dem Weg ins Büro des Gemeindehauses – das einst das Klassenzimmer der Dorfschule beherbergte. Er deutet auf einige leerstehende Rustici im Dorfkern, die von Pflanzen überwuchert sind. Ein Zürcher Unternehmer habe einst ins Dorf und einige Häuser investiert. Aber geschäftlich sei dann manches schief gelaufen. «Jetzt gehören die Häuser einer Bank. Sie zu verkaufen und zu restaurieren ist schwierig – und teuer.» Teuer vor allem auch deshalb, weil Corippo seit 1975 unter Denkmalschutz steht. Denn es ist eines der wenigen Tessiner Dörfer, das nicht durch ringsum zerstreut entstandene neue Bauten aus der Form gefallen ist. Schutz bedeutet aber auch: strenge Bauvorschriften. «Man darf zum Beispiel keine grossen lichtdurchlässigen Fenster einbauen. Und die Dächer müssen mit Granitplatten gedeckt werden. Da kostet der Quadratmeter schnell bis zu 4000 Franken. Die Subventionen dafür betragen gerade mal 200 Franken…»

1975 wurde die Stiftung Corippo gegründet und mit Mitteln der Eidgenossenschaft sowie des Kantons Tessin ausgestattet, um die denkmalpflegerischen Pläne in die Praxis umzusetzen. Dabei ging es zunächst einmal darum, das einmalige Ortsbild zu bewahren. Dagegen blieb ein anderes Ziel der Stiftung unerfüllt, die Wiederbelebung des Dorfes. Eine Schule gibt es schon seit Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts nicht mehr, ebenso wenig eine Post oder einen eigenen Pfarrer, und die Osteria gegenüber der Kirche hat nur während des Sommerhalbjahres offen. Immerhin bringt der Bäcker aus Brione täglich kurz nach acht Uhr frisches Brot. «Am Brotwagen trifft man sich. Früher kam noch zweimal die Woche ein mobiler Lebensmittelladen. Heute können wir immerhin telefonisch beim Hauslieferdienst Bestellungen aufgeben», erzählt Claudio Scettrini.

Drei Autobesitzer

Auch sonst organisiere man sich perfekt, wie Gabriella Scettrini betont. Geplagt von Rückenschmerzen ist sie tief gebückt ins Büro des Sindaco gekommen, verfolgt von der Katzenmutter und einem der kleinen Kätzchen. «Vor sechs Jahren ist mein Mann gestorben. Das ist nicht leicht zu ertragen. Aber es hat auch Vorteile, wenn viele Bewohner eines Dorfes allein sind: Man hilft sich gegenseitig, schaut, ob es dem Nachbarn gut geht, ob obskure Gestalten im Ort herumschleichen.» Fürs Einkaufen im Tal oder für einen Arztbesuch gebe es drei Autobesitzer, die einem helfen würden.

Und wenn sie, Gabriella, mal ins Tal müsse, dann erledige sie alles auf einmal: Arztbesuch, Zahnarzt, Coiffure, Einkauf. «Wenn ich in Tenero bei der Migros bin und sehe, wie Hausfrauen eine Zwiebel, etwas Safran, ein Päckchen Reis und etwas Butter kaufen, wundere ich mich. Wie kann man nur so ineffizient einkaufen?» Bei ihr seien es gleich 10 Kilo Reis, Polenta, Zucker. Ihr Sohn bringe allerdings Vieles auch sonst mit. Ab und zu müsse sie jedoch selber ins Tal, «Männer kaufen einfach komisch ein…»

Silvana Dal Tin ist eine der drei Autobesitzer – nebst dem Wirt der Osteria und dem Sindaco. Die 63jährige hilft wo sie kann. «Oft finde ich morgens einen Zettel vor meiner Haustür mit Wünschen, was ich aus dem Tal mitbringen soll.» Sie ist eine von drei Zugezogenen – alles Deutschschweizer, die die Ruhe fernab von Wohnanlagen, Einkaufszentren, Strassenkreuzungen und Stress gesucht haben. Silvanas Vater war allerdings Italiener und in den elf Jahren, in denen sie in Corippo wohnt, ist sie schnell zu einer Einheimischen geworden. Das wird klar, als sie sich über die Touristen aufregt: «Die verwechseln Corippo mit dem Ballenberg und gehen unverfroren in die Häuser oder gucken in die Fenster, als wären wir Primitive.» Silvana Dal Tin ist mittlerweile gar zur höchsten Coripperin erkoren worden: Sie hat den Vorsitz der Gemeindeversammlung übernommen. Auch macht sie die Rechnungsprüfung und sitzt im Kirchenrat.

Es fehlen 11 Millionen Franken

Seit 1997 ist Claudio Scettrini Sindaco von Corippo. «Doch nicht mehr lange», hofft er. Im April dieses Jahres haben sich die Stimmberechtigten seines Dorfes nämlich für eine Gemeindefusion ausgesprochen. Geplant ist, die Dörfer von Sonogno bis Vogorno zu einer einzigen Gemeinde Verzasca zusammenzuschliessen. Doch bis das Unterfangen vollendet ist – eine der betroffenen Gemeinde hat gegen das Vorhaben Rekurs eingelegt – behält Corippo seinen Titel «kleinste politische Gemeinde der Schweiz». Gewiss, man verliere durch die Fusion an Autonomie und persönlichem Bezug, räumt der Sindaco ein, «aber es geht einfach nicht mehr im Alleingang. Wir können nichts Neues machen. Jede Ausgabe ist ein Problem. Die Steuereinnahmen liegen bei rund 55‘000 Franken, die Ausgaben bei etwa 140‘000 Franken. Und es stehen Investitionen an: für die Wasserversorgung, die Kanalisation, für Parkplätze unterhalb des Dorfes. Es fehlen rund 11 Millionen Franken.» Überdies sei die Zusammensetzung der dreiköpfigen Exekutive knifflig: Wegen der engen verwandtschaftlichen Beziehungen – in Corippo sind fast alle miteinander verwandt oder verschwägert –, habe es für die letzte Wahl gar die Erlaubnis vom Kanton gebraucht.

Eine alte Frau wird von ihrer Tochter vor die Pfarrkirche Santa Maria del Carmine gefahren – ein wunderbarer südländischer Barockbau, der zur Hauptsache aus dem 18. Jahrhundert stammt. «Ja, ich komme aus Corippo, lebe heute aber in Lugano», sagt sie. Sie hätten die Gräber ihrer Schwestern auf dem Friedhof besucht, ihr Haus im Dorf sei längst verkauft. Ein anderer älterer Passant, Piero Zanga, kommt hinzu, auf der Schulter trägt er ein grosses Stück Holz: «Wir haben noch das Haus meiner Frau als Feriendomizil. Aber hier leben? Nein auf keinen Fall. Im Winter ist Corippo ausgestorben, die Häuser sind schlecht heizbar und feucht.» Seine Frau, eine Coripperin, habe viel zu lange hier gelebt.

Dass sich die Vorfahren da oben überhaupt angesiedelt haben! Corippo entstand zu einer Zeit, da die Malaria in der Magadinoebene herrschte, im 15. Jahrhundert, und die Menschen in den Bergen Zuflucht suchten. Um 1850 lebten in dem Dorf rund 300 Personen. Es entleerte sich dann aber als Folge von Arbeitslosigkeit und Hungersnot im 19. Jahrhundert auf dramatische Weise durch die Auswanderung seiner Bewohner, vornehmlich nach Amerika. «Heute kommen immer wieder Gross- und Enkelkinder aus Kalifornien und wollen das Haus der Vorfahren sehen», erzählt Claudio Scettrini später im Grotto Corippo, wo es wunderbare Torta di pane, Alpkäse, Salami und Coppa gibt. Überhaupt sei das Dorf im Sommer viel bevölkerter als es den Daten nach klingen möge: Es stünden etwa 40 Zweitwohnungen in den Rustici zu Verfügung. Auch sei Corippo ein beliebtes Ziel von Wanderern, die das enge und wilde Verzascatal hinaufstiegen – entlang des Flusses, dessen smaragdene Farbe dem Tal seinen Namen gab, als aus «verde aqua» Verzasca wurde.

Die Zukunft? Es gebe wieder Geld für Corippo. Jedenfalls plane die Fondazione aus Corippo ein Reka-Feriendorf zu machen, mit der Rezeption in der Osteria. «Mal schauen was daraus wird. In 20 Jahren ist Corippo wohl ein Museum.»

Dezember 2014
Der Artikel ist auszugsweise auch erschienen im www.beobachter.ch

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