Aceto Balsamico:
VON VERA BUELLER Schon nach wenigen Tagen hatte Angelo Delea begriffen, dass seine Rechnung nicht aufgehen konnte: Die Weinlese fiel in diesem Jahr, 1996, viel zu üppig aus. Und er, der Weinproduzent, hatte unter den Tessiner Winzern verkünden lassen, er würde einen besonders guten Preis für Americana-Trauben zahlen. Diese Sorte eignet sich zwar schlecht zur Weinherstellung, aber man macht aus ihr den besten Grappa. Solchen wollte Delea denn auch aus den zugekauften Trauben in seinem Betrieb destillieren. Doch nun kamen 150‘000 Kilogramm zusammen. Das war zu viel des Guten. Wohin damit? Angelo Delea erinnerte sich an einen Studienaufenthalt in Modena, wo er die Methode der Aceto Balsamico-Produktion kennen gelernt hatte. «Da dachte ich mir: Weshalb soll man so etwas nicht auch aus Americana-Trauben machen können?», erzählt er. Wegen des hohen Säuregehalts schien ihm diese Traubensorte für die spezielle Essigproduktion sogar besonders geeignet. Und er wagte den Versuch. Für die Schweiz war das eine absolute Neuheit. Seither sind elf Jahre vergangen. Angelo Delea lacht: «Ich bin tatsächlich aus einer Notlage heraus auf den Balsamico gekommen.» Dann eilt er voran, mit raumgreifendem Schritt – zwei Stufen auf einmal nehmend – die Treppe hinauf zu seiner «Acetaia», dem Essigraum. Hier, im Dachgeschoss, lagern zehn Reihen mit je neun Fässern von 10 bis 50 Litern Fassungsvermögen. Die Wärme treibt einem augenblicklich Schweissperlen auf die Stirn. Derweil erklärt Angelo Delea, warum sich die Fässer im Estrich befinden: «Im Sommer erwärmen sie sich hier, im Winter kühlen sie aus. Der Balsamico benötigt für seine Reifung solche Temperaturschwankungen.» In Modena mache man es genau so. Auch sonst hält sich Angelo Delea präzis an das Verfahren des berühmten Originals. «Ich habe meine Angestellten durch Spezialisten aus Modena, die extra hierher gekommen sind, ausbilden lassen.» 1 Liter nach 25 Jahren Arbeit Und dann erklärt er im Schnelldurchlauf, wie der edle Weinessig entsteht: Zuerst kocht man den Traubenmost auf etwa die Hälfte ein – so erhöht sich die Konzentration an Fruchtzucker. Aus dieser Menge gewinnt man den Grundessig, der in alten, aus der Weinproduktion ausgemusterten und mit Essigbakterien beimpften Eichenfässern ausgebaut wird. Dann folgt die Umlagerung des Mostes in die Holzfässer: Regelmässig und über Jahre wird eine gewisse Menge Essig von einem Fass ins nächst kleinere transferiert. Je länger das Verfahren dauert, desto dicker wird der Essig, denn es findet ein Verdunstungsprozess statt. Nach drei Jahren entsteht so der «Erwachsene», «l’Adulto» und nach sechs Jahren lagert im kleinsten Fass «il Vecchio» – der Alte. Aus 100 Litern Traubenmost erhält man nach 20 bis 25 Jahren Arbeit gerade mal 1 bis 1,5 Liter Balsamico. So alten Balsamico hat Delea freilich noch keinen, aber in ein paar Jahren wird es auch bei ihm einen «extravecchio» geben, den besonders alten. Die Fässer sind aus Eiche, Kirsche, Kastanie, Esche, Robinie, Wachholder und entsprechend angeschrieben: «Die verschiedenen Holzarten und ihre Reihenfolge bei der Umlagerung prägen den Geschmack und geben die individuelle Note», sagt Delea. Dazu trage allerdings auch die Wahl der Traubensorte bei. Sein Essig sei fruchtiger, spritziger als derjenige aus Modena, der aus spät gelesenen weissen Trebbiano- oder SauvignonTrauben hergestellt wird, sagt er. Und die Kenner geben ihm Recht. Dass Deleas Essiginnovation gelungen ist, verwundert niemanden: Der 57-Jährige ist ein experimentierfreudiger Mensch, der das Risiko nicht scheut. «Passione», Leidenschaft, treibt ihn an. Und eine grosse Ruhe sorgt dafür, dass er trotz ständiger Telefonate, prallem Terminkalender und Erfolg ausgeglichen und bemerkenswert uneitel geblieben ist. Bruch mit der Vergangenheit Längst wurden Angelo Deleas Produkte mehrfach prämiert, man kennt den Weinproduzenten auch über die Landesgrenzen hinaus. Dabei hatte er von Haus aus keinerlei Beziehung zum Weinmachen. Er besuchte die Handelsschule und stieg ins Gastgewerbe ein. Als Hobbywinzer fing er 1983 mit den Reben eines Onkels an zu experimentieren – inspiriert durch die Bordeaux-Weinerzeugung mit Veredelung in Barriques aus französischem Eichenholz von Allier und Nevers. Er liess sich als Sommelier ausbilden, besuchte Önologiekurse an der Eidgenössischen Schule von Changin und im Bordeaux-Gebiet. Richtig los ging es dann 1993: In der Lebensmitte wagte er den Bruch mit dem Sicheren und Bequemen, verkaufte seine inzwischen vier Restaurants und investierte das Geld in einen imposanten Kellereibetrieb samt eigener Rebberge. Der Zweckbau in der Industriezone von Losone unweit Locarnos ist allerdings äusserlich kein Ereignis. Auch wenn auf dem Parkplatz die Schatten spendenden Pergolas üppig mit Wein überwachsen sind: Es könnte sich auch um eine Produktionsstätte von Unterwäsche handeln. Eindrücklich hingegen sind die technischen Raffinessen im Innern: eine chromstahlblitzende Vinifikationsanlage mit computergesteuertem Schaltpult, die modernste Abfüllanlage, ein imposantes, zentral vernetztes Hochregallager inklusive Spedition, ein Museum mit Werkzeugen aus der Weinproduktion, eine Brennerei aus dem Jahre 1932 mit alten Kupferbrennkolben und eine Oenothek. Den Höhepunkt bildet indes der Besuch im spektakulären Fasskeller Deleas: Es ist eine unterirdische Kathedrale mit Säulen und Rundbogenarchitektur und etwa 600 Eichenfässern, verteilt auf 3000 Quadratmetern. Keine Frage, rasanter als Angelo Delea ist in der Tessiner Weinszene keiner gestartet. Heute verfügt er über 20 Hektaren Rebberge und produziert jährlich 650‘000 Flaschen Wein, was etwa 10 Prozent der gesamten Tessiner Weinproduktion entspricht. Zum Imperium seines Unternehmens gehört auch der Ferienbauernhof «Fattoria l’Amorosa» (Landgut der Geliebten: www.amorosa.ch) mitten in den Weinbergen bei Sementina-Gudo mit einem GaultMillau-dekorierten Restaurant. Verwendet wird hier natürlich der Aceto Balsamico aus der Eigenproduktion. Auf keinen Fall für den Salat verwenden Wie und wozu man ihn braucht? Auf jeden Fall sparsam. Das schont die Haushaltskasse. Es gibt unzählige Rezepte: zu Mascarponeeis, Entenbrust, Parmigiano Reggiano, Entenlebermousse, Parmaschinken und vielem mehr. «Man tröpfelt ihn übers Kürbis-Risotto, über Spargeln, über Formaggini und – buonissimo – über Erdbeeren!», empfiehlt Delea. Und man kann ihn in winziger Menge auch pur als Aperitif oder Digestif geniessen. Wozu man ihn auf gar keinen Fall verwenden sollte, sind Salate. Dafür ist er einfach zu schade und zu teuer. «Wer es dennoch nicht lassen kann, sollte für den Salat auf den ‹il Giovane›, den erst einjährigen Essig, zurück greifen», meint Delea. Leichter gesagt als getan: Den Aceto Balsamico von Delea sucht man nämlich vergebens in den Läden. Im Tessin führen ihn einige Restaurants, und kaufen kann man ihn nur übers Internet (www.delea.ch) oder aber vor Ort bei Delea in Losone. Warum findet man den Essig nicht auch in Delikatessengeschäften oder bei Globus? Delea zuckt mit den Schultern: «Ich wollte von Anfang an einen eigenständigen, einen Tessiner Aceto Balsamico nach der Methode von Modena produzieren und keine Kopie des Balsamico aus Modena herstellen». Diesen Unterschied zu vermitteln und entsprechende Abnehmer zu finden, sei ihm noch nicht gelungen – mit Betonung auf «noch». August 2007
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