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 Notruf 144
Rettungslos überfordert

 

VON VERA BUELLER

Es ist weit nach Mitternacht und die Besorgnis von Vera Nyeste verwandelt sich zunehmend in Panik. Sie hat Angst um ihre Mutter. Die 83jährige Frau liegt im Bett und kann kaum mehr atmen. Ursache ist  ein geschädigtes Herz, hoher Blutdruck und eine Niere, die nicht mehr richtig funktioniert. Und das bei weit über 30 Grad Celsius, Ende Juni. Vera Nyeste weiss als diplomierte Pflegefachfrau, dass ihre Mutter sofort ins Spital muss: Es geht um Leben und Tod.

Die Ambulanz ist alarmiert; sie wartet auf den Notfallwagen. Zwanzig, dreissig oder gar 45 Minuten? Vera Nyeste hat jedes Zeitgefühl verloren. Dabei liegt die Notfallzentrale  nur gerade 6 Minuten Fahrzeit entfernt.

Helfer war besorgt untätig

Vera Nyeste rennt auf die Strasse. Sie will mit der Taschenlampe den Fahrer des Ambulanzwagens auf sich aufmerksam machen. Der muss ja von Berikon her kommen. Ihre Wohnung liegt an der Hauptstrasse zwischen Berikon und Eggenwil – sie ist also leicht zu finden.

Endlich, kurz vor 1 Uhr trifft der Ambulanzwagen ein – fast eine halbe Stunde nach der Alarmierung. Der Chauffeur hatte sich verfahren, trotz Navigationsgerät. Es sei halt dunkel gewesen, entschuldigte sich Monate später Intermedic, das für die Region zuständige Rettungsunternehmen. Ausserdem befinde sich das Haus von Frau Nyeste zwar auf dem Gemeindegebiet Eggenwil, «jedoch ca. 200 Meter vor der Ortstafel».

Wenn die besorgte Tochter geglaubt hatte, jetzt werde endlich für ihre Mutter gesorgt und sie komme rasch ins Spital, so hatte sie sich getäuscht. Der Rettungssanitäter und sein Transporthelfer waren von der Situation, die sie antrafen, völlig überfordert. Diesen Eindruck hatte zumindest Vera Nyeste, als sie sah, dass der eine «Retter» sich während längerer Zeit mit seinem Handy bei einem Unbekannten Rat zu holen versuchte, während der andere besorgt untätig war.

Die Mutter selber die Treppe hinunter getragen

Und dann passierte das mit dem Tragstuhl. Die beiden Notfallmänner waren nicht in der Lage, die betagte, normalgewichtige Patientin mit dem Tragstuhl das enge Treppenhaus hinunterzutragen. Erst als Vera Nyeste selber einschritt – die Notsituation ihrer Mutter hatte ihr wohl Herkuleskräfte verliehen – und ihre Mutter das Treppenhaus hinunter trug, konnten die Sanitäter die Frau zum Ambulanzwagen bringen.

An eine Abfahrt ins Spital war allerdings noch lange nicht zu denken. Ein nächtlicher Velofahrer auf dem Heimweg stürzte – wohl abgelenkt vom Spektakel beim Ambulanzwagen. Was wiederum den Sanitäter dazu veranlasste, zum unverletzten Velofahrer zu eilen – ungeachtet der auf der Bahre vor dem Rettungswagen liegenden, um Atem ringenden 83jährigen schweissgebadeten Mutter Nyeste.

Velofahrer versorgt, Frau Nyeste verladen. Bereit zur Abfahrt? Ja, aber weit kommen sie nicht. Sie müssen noch einmal umkehren, weil die «Retter» ihre Utensilien in der Wohnung vergessen hatten.

«Hat Ihre Mutter eine Patientenverfügung?»

Endlich im Kantonsspital Baden eingetroffen, es sind seit dem Notruf anderthalb Stunden vergangen, ist Vera Nyeste mit ihren Nerven am Ende. Erst recht als sie die erste Frage des Notfallarztes vernimmt: «Hat ihre Mutter eine Patientenverfügung?»

Es ist dann doch noch alles gut gegangen: Die Mutter – sie hatte ein akutes Lungenödem – blieb einen Tag auf der Intensivstation und sechs Tage im Spital. Und der private Notfalldienst des Bezirks Berikon entschuldigte sich gar schriftlich für die Pannen. Allerdings erst nach gehörigen Reklamationen, dem Einbezug des Kantonsarztes und der Intervention des Beobachters. Das war dann wohl auch der Grund, weshalb die ursprüngliche Rechnung des Ambulanzdienstes im Nachhinein «aus Kulanz» um eine Einsatzstunde massiv gekürzt wurde.

Oder um ganz einfach nur weiteren Ärger zu vermeiden? Die Intermedic AG steht schon länger in der Kritik der Öffentlichkeit und droht gar die Zulassung für den Bezirk Berikon zu verlieren – weil es angeblich über zu wenig qualifiziertes Personal verfüge.

Februar 2014
Der Text ist auch erschienen im www.beobachter.ch

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